Entpolitisierte Kindheitsidylle

Kinder sollten in der DDR zu ‚sozialistischen Persönlichkeiten‘ gebildet werden. Eine zentrale Rolle spielte hierbei die institutionalisierte Betreuung. Doch welche Rolle nimmt sie in gegenwärtigen Erinnerungen noch ein? Wie beschreiben Zeitzeug*innen ihre Kindheit in der DDR gegenüber der heutigen Kindheit und welche Bereiche sind dabei besonders wichtig für die Erzählenden?

Im Rahmen der Fallstudie zu Kindheitserinnerungen wurden Zeitzeug*innengespräche zwischen Kindern und älteren Menschen aus der DDR untersucht. Die in diesen Interviews gestellten Fragen wurden von den beteiligten Kindern selbst entwickelt, der Fokus der Auswertung lag auf den Erzählungen der Zeitzeug*innen. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Studie, dass die Zeitzeug*innen mit unterschiedlichen Absichten in die Interviews mit den Kindern gehen und ihnen gezielt etwas mitgeben möchten. In den Erzählungen über die eigene Kindheit grenzen sie diese von der heutigen Kindheit immer wieder ab – etwa bezüglich der Themen Wohnen, Freizeit, Reisen und Schule. Im Fokus der erzählten Erinnerungen steht das eigene Alltagserleben als Kind. Dabei beschreiben sie Kindheit als eine schöne Kindheit, eine freie, von Erwachsenen unbeobachtete Nische. Im Rahmen der institutionalisierten Betreuung fand in der DDR auch eine politische Prägung statt, die in den erzählten Erinnerungen jedoch kaum auftaucht. Stattdessen werden politisch geprägte Organisationen wie die Schule oder die Pioniere in den untersuchten Gesprächen mit heutigen Kindern entpolitisiert (siehe auch Quellenfokus Pioniererzählungen). Nachfolgend wird die erinnerte Kindheit als entpolitisierte Idylle anhand von Transkriptauszügen näher dargestellt.

Die Kinderzeitschrift "Bummi" erschien von 1957 bis 1989 im Verlag "Junge Welt".
Detailansichten der Cover von BUMMI, Sammelbände 28, 34 (1979,1982) Quelle

Kindheit findet draußen statt

In den Erzählungen der Zeitzeug*innen findet die eigene Kindheit vorwiegend draußen und in Gruppen statt. Dabei werden die Kinder zumeist nicht von Erwachsenen beaufsichtigt, sondern bleiben in ihrer Freizeit unter Gleichaltrigen. Erlebnisse mit den Eltern werden in den Gesprächen nur vereinzelt thematisiert. Das unbeaufsichtigte, freie Draußen-Spielen wird von den Zeitzeug*innen als unbeschwerte Kindheitsidylle beschrieben, so beispielsweise bei Frau Buche 1 (*1958):

„I.: Und ich hab aber noch ne kurze Frage. Wenn Sie sich mit Freunden getroffen haben. Was haben Sie gemacht und durften Sie dorthin alleine gehen?

FrB.: Als ich klein war, wo ich Kind war? Na, wie gesagt, uffm Spielplatz. Da wo ich wohnte im Leipziger Osten, das war früher ein Arbeiterviertel. Da hatten wir Höfe, Hinterhöfe. Da haben wir uns dann immer getroffen, wie in so ner kleinen Clique und dann sind wir da zusammen auf die Bäume geklettert oder haben Verstecke gespielt oder hatten wir nen Stück hin, hatten wir nen kleinen Park, wie gesagt die Spielplätze. Dann sind wir auf der Wiese rumgetollt im Sommer, ne. Im Winter mussten wir dann mehr Zuhause sein. Das war damals alles ein bisschen einfacher, als heute, ne.“

Das „Wir“ der Kindergruppe in der erzählten Episode verdeutlicht ein Gemeinschaftsgefühl. Frau Buche endet zudem mit einer abschließenden Einordnung im Vergleich zur Gegenwart: Früher war alles etwas einfacher. Das Spielen fand auf Spielplätzen, Hinterhöfen und in der Natur statt. In anderen Interviews werden auch immer wieder Brachen als Spielorte angeführt.

Auch bei Frau Ahorn (*1965) findet ein Gegenwartsvergleich statt. Sie thematisiert das Draußen-Spielen im Zusammenhang mit den technischen Entwicklungen seit ihrer Kindheit.

FrA.: „Bloß, man hatte jetzt wirklich keine, man hatte jetzt kein Handy, so wie du. Kein Computer, kein Laptop, keine Internetsachen, kein Telefon. Deswegen hast du dann immer eben, also man hat viel mehr draußen gespielt. Im Wald und Schlittschuh gelaufen oder Schlitten gefahren oder du hast dir Buden gebaut von Bäumen. Ne? Oder in Scheunen, also hier auf dem Land war ja, gibt hier ja, hast ja viel deiner Fantasie freien Lauf lassen können. Und das hat eigentlich Spaß gemacht. Oder auf Dachböden von anderen Freundinnen und so, ne? Und dann haben wir dann da uns verkleidet und irgendwelche alten Schuhe oder so Gardinen umgehängt. Das hat richtig Laune gemacht. Also man hat nichts vermisst.“

Frau Ahorn endet ebenso wie Frau Buche mit einer abschließenden Einordnung, die als Vergleich mit der Gegenwart gedeutet werden kann: Sie hat nichts vermisst. Diese Art der doppelten Verneinung zeigt sich immer wieder in den Interviews. Sie lassen sich dahingehend deuten, dass die Zeitzeug*innen sich – ohne es klar zu benennen – an einem mangelgeprägten, diktaturgeschichtlichen Bild vom Leben in der DDR abarbeiten. Sie schildern ihre Kindheit anhand verschiedener Freizeitaktivitäten und sowohl Frau Buche als auch Frau Ahorn greifen dabei auf beschreibende Aufzählungen zurück, weniger auf konkrete Situationen. Das Draußen-Spielen begründen die Zeitzeug*innen in den Interviews in zweierlei Hinsicht: Zum einen arbeiteten die Eltern und hatten damit weniger Zeit für ihre Kinder. Zum anderen spielten die Kinder so viel draußen, weil die Wohnverhältnisse beengt waren und es drinnen schlichtweg wenig Platz zum Spielen gab.

Eigene Bilder von Kindheit

Aufgrund der besonderen Interviewsituation werden die Kindheitsbilder der Zeitzeug*innen besonders deutlich. Kindheit wird von Erwachsenen vor dem Hintergrund der eigenen Kindheitserinnerungen wahrgenommen und bewertet (u.a. Alexi, 2014). Dabei wird die eigene Kindheit in einer erzählenden Perspektive häufig als besonders glücklich beschrieben, während gegenwärtige Kindheiten eher negativ wahrgenommen werden (ebd.). Dies zeigt sich beispielsweise in Diskursen um die sogenannte veränderte Kindheit in denen veränderte Bedingungen des Aufwachsens durch gesellschaftlichen Wandel problematisiert werden (ebd.). Demgegenüber stehen großangelegte Untersuchungen wie die World-Vision-Kinderstudie (World Vision e.V., 2018) oder die KIM-Studie (mpfs, 2023), die heutige Kinder zu deren Kindheit befragen. Hierbei zeigt sich ein deutlich differenzierteres Bild: So gehören etwa das Treffen mit Freund*innen als auch das Draußen-Spielen nach wie vor zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen von Kindern im Grundschulalter (ebd.).

Die Zeitzeug*innen unterstellen in den Gesprächen Kindheit heute als medien- und wohlstandsgeprägt. Im Vergleich zu ihrem eigenen Erleben scheint den Zeitzeug*innen die Kontrolle durch Eltern heute stärker zu sein. Beispielhaft lassen sich Frau Hainbuche (*1968) und Frau Dattelpalme (*1965) anführen:

I.: „Okay. Und welche Sender hast du geguckt im Fernsehen?“

FrH.: „Oh! Bei uns gab's nur ich glaube, es gab nur zwei Sender. Also so viele, wie heute, gab's nicht und so viel Fernsehen geguckt? Hab' ich als Kind nicht, da kam immer am Samstag 'n Märchenfilm. […] Und abends, kurz vor um sieben kam der Sandmann. Und viel mehr wurde da nicht geguckt. Also, wir waren viel draußen auf der Straße und haben gespielt. Fernsehen. Fernsehen war früher noch nicht so ein Thema, wie das jetzt ist. Wir hatten ja auch kein Handy oder so.“

FrD.: „Also, dass wir uns jetzt so von Mama und Papa, wie es heute üblich ist, irgendwo hin haben fahren lassen, das gab's damals einfach nicht, wa? Unsere Eltern haben viel gearbeitet, lange gearbeitet. Wir waren auch beizeiten Schlüsselkinder, ne?“

Frau Hainbuche erzählt davon, dass sie nur wenig ferngesehen hat. Erneut wird in diesem Zusammenhang die draußen stattfindende Kindheit thematisiert. Frau Dattelpalme spricht von der Abwesenheit der Eltern in der eigenen Kindheit und stellt hier einen Kontrast zur Gegenwart dar. Die älteren Menschen grenzen sich in beiden Zitaten von den heutigen Kindern ab – dabei werden ihre Eindrücke von gegenwärtiger Kindheit deutlich. Diese bringen sie in die Gespräche gezielt mit ein, das Andersartige der eigenen Kindheit wird daran orientiert beschrieben.

Entpolitisierung am Beispiel Schule

In den Erzählungen zur Schule greifen die Zeitzeug*innen ihre Unterrichtsfächer, die Räumlichkeiten oder auch die Lehrkräfte auf. Eine politische Prägung, beispielsweise durch bestimmte Unterrichtsinhalte in den Fächern Heimatkunde oder Staatsbürgerkunde, wird in den Interviews kaum berichtet. Stattdessen stehen Ordnung und Disziplin stärker im Vordergrund, wie sich auch in der nachfolgenden Beschreibung von Frau Hainbuche (*1968) zeigt:

I.: „Und wie war dein Unterricht?“

FrH.: „Ich glaube, mein Unterricht war nicht viel anders als deiner. Der Unterschied war, dass wir uns am Anfang des Unterrichts hinter den Stuhl stellen mussten. Und dann ist der Klassensprecher, guckte dann, ob wir alle stillstehen und ruhig sind. Und dann ging der vor zur Klassenlehrerin und machte Meldung, dass die Klasse zum Unterricht bereit ist und die sagte dann: ‚Setzen.‘ Und dann durftest du dich erst auf deinen Stuhl setzen. Wenn du leise warst und ruhig warst. Und dann ging der Unterricht los.“

In diesem Ausschnitt vergleicht Frau Hainbuche erneut Erinnerungen an die eigene Kindheit und Schulzeit mit der Gegenwart. Frau Hainbuche beschreibt bildhaft organisatorische Abläufe vor dem Unterrichtsbeginn, die Lehrkraft wird als Autorität dargestellt. Auffällig ist, dass keinerlei Bezüge zu einer politischen Prägung im Sinne der Entwicklung zur sozialistischen Persönlichkeit hergestellt werden.

Die Kinderzeitschrift "Bummi" erschien von 1957 bis 1989 im Verlag "Junge Welt".
Detailansicht des Covers von BUMMI, Sammelband 28 (1979) Quelle


Aus den Erzählungen der Zeitzeug*innen lassen sich verschiedene Kindheitsbilder rekonstruieren. In einem der geführten Interviews resümiert die Zeitzeugin Frau Erle, dass ihre Kindheit „sehr unbeschwert“ gewesen sei. Dieser positive Blick auf die eigene Kindheit, das Bild einer Kindheitsidylle, findet sich in nahezu allen erzählten Kindheitserinnerungen wieder. Diese lassen sich damit klar dem „Arrangementgedächtnis“ (vgl. Sabrow, 2009), also der alltagsgeschichtlichen Dimension von Erinnerungen, zuordnen. Bezüge auf politische Themen und auf Politisierungen finden sich nur in vereinzelten Fällen. Demgegenüber wird Kindheit heute eher kulturpessimistisch bewertet. Ausgehend von diesen Erkenntnissen stellt sich die Frage, inwiefern die erzählten Kindheitserinnerungen DDR-spezifisch sind? Sind die Erinnerungen an eine freie Kindheit, die vorwiegend draußen stattfindet, vielleicht eher generational bedingt? Diese Fragen werden in der zweiten Förderphase des Projektes adressiert, indem Kindheitsnarrative aus westdeutscher Perspektive untersucht werden sollen.

Fußnoten
  • [1]

    Alle Namen sind Pseudonyme.

Literatur
  • Alexi, S. (2014): Kindheitsvorstellungen und generationale Ordnung. Leverkusen: Budrich.

  • Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs) (Hrsg.) (2023): KIM-Studie 2022. Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-jähriger in Deutschland. (Abruf 05.03.2024: https://www.mpfs.de/fileadmin/...).

  • Sabrow, M. (2009): Die DDR erinnern. In: Sabrow, M. (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 11–27.

  • World Vision e.V. (Hrsg.) (2018): Kinder in Deutschland. 4. World Vision Studie. Weinheim, Basel: Beltz.

Quellen

Gespräche von Grundschulkindern mit Zeitzeug*innen

"Bummi" erschien im Verlag "Junge Welt"...

Die Kinderzeitschrift "Bummi" erschien von 1957 bis 1989 im Verlag "Junge Welt".
Alle Mythen

Die Vorstellung eines Fortschritts durch Wissenschaft ließ Bilder eines technikorientierten, effektiven, an Wissenschaftlichkeit orientierten Unterrichts entstehen.

Ein zentraler Bildungsmythos im Rahmen des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs der DDR war der einer verwirklichten ‚Bildung für Alle‘.

Das Narrativ der Geschlechtergerechtigkeit war ein wichtiges Element des staatlichen Selbstverständnisses in der DDR und der Versprechen des Sozialismus.

Illustration von Werner Klemke in einem DDR-Lesebuch für die 2. Klasse. Darauf ist eine Frau zu sehen, die sich über einen Schreibtisch beugt, an dem ein Mädchen sitzt. Die Frau hält ein Heft. Die Illustration ist mit "Wir helfen Bärbel" betitelt.

Der sogenannte antifaschistische Gründungsmythos gehörte als systemkonsolidierendes Narrativ zum Selbstverständnis der DDR.

In der DDR spielten Gemeinschaften, hier ‚Kollektive‘ genannt, wie die Klasse in der Schule oder Gruppen bei den Jungen Pioniere und der FDJ, eine herausragende Rolle.