‚Bildung für Alle‘

Ein zentraler Bildungsmythos im Rahmen des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs der DDR war der einer verwirklichten ‚Bildung für Alle‘. Als bildungspolitische Formel und Ideal stellte es nicht nur in der DDR selbst, sondern auch in den vielseitigen internationalen Bildungskooperationen der DDR einen wichtigen Leitgedanken dar. Das Entstehen und Fortleben des Ideals einer umfassenden ‚Bildung für Alle‘ im transnationalen Raum wird hier anhand von drei Fallbeispielen aus Finnland, Mosambik und Nicaragua veranschaulicht.

Cover der Broschüre "Bildung für Alle" (1965) Quelle
Finnisches Cover der Broschüre "Bildung für Alle" (1965) Quelle

Die Schulreformen von 1946, 1959 und 1965 in der DDR und deren Implementierung stießen im Ausland auf ein reges Interesse, sodass sich im Laufe der Zeit der internationale pädagogische Austausch der DDR verstetigte (Weiß, 2020). Bis in die späten 1980er-Jahre unterhielt die DDR ein Programm von weit verzweigten internationalen Bildungskooperationen, u.a. mit Mosambik, Angola, Äthiopien, Vietnam, Kuba, Ägypten und Nicaragua (vgl. Miethe & Weiß, 2020). Dabei fand die internationale Bildungszusammenarbeit unter ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen statt: So konnten gesellschaftliche Transformationsprozesse, wie der antikoloniale Befreiungskampf in Mosambik oder eine anti-diktatorische Revolution in Nicaragua, ebenso Anlass für die Bildungszusammenarbeit bieten, wie im Falle skandinavischer, nicht-sozialistischer Länder eine angestrebte Bildungsreform (z.B. in Finnland). Je nach gemeinsamer Interessenlage waren diese Bildungskooperationen mehr oder weniger intensiv. In der DDR wurde der internationale Austausch zu Bildungsfragen zum einen durch wissenschaftliche Symposien mit ausgewählten Partnerinstituten aus dem Ausland, sowie durch Konsultationsbesuche ausländischer Delegationen in DDR-Bildungsinstitutionen und den mit Bildungsaufgaben betrauten Ministerien der DDR praktiziert (vgl. Fischer, 1975; Müller, 1995). Zum anderen bot die DDR auch kurzzeitige Spezialisierungen, sowie fachspezifische oder politische Weiterbildungen für Kader, ausländische Pädagog*innen und schulische Funktionstragende an (vgl. Burton, 2018; Harisch, 2023; Piepiorka & Buanaissa, 2021). Darüber hinaus wurden in der DDR längerfristige Bildungsangebote für Menschen aus dem Ausland organisiert und bereitgestellt. Hierbei reichte das Spektrum von der regulären Schulbildung (vgl. Reuter & Scheunpflug, 2006; Timm, 2006), über Berufsausbildung (vgl. Schenck, 2018), bis hin zur Hochschulbildung (vgl. Ritschel, 2015). Schließlich erfolgten in Form der Bereitstellung von Lehr- und Unterrichtsmaterialien sowie der Entsendung von DDR-Berater*innen und -Lehrkräften in die jeweiligen Länder auch konkrete Unterstützungsleistungen vor Ort (vgl. Voß, 2005).

In Anbetracht der unterschiedlichen bildungspolitischen Interessenlagen der Kooperationspartner*innen aus Finnland, Mosambik und Nicaragua diente die universelle Dimension des Slogans ‚Bildung für Alle‘ 1 den Beteiligten als gemeinsamer Referenzrahmen für die Bildungszusammenarbeit mit der DDR. Dabei wurden der sozialistischen Ausdifferenzierung des Slogans und dessen Umsetzung in der DDR sowohl von den bildungspolitischen Entscheidungstragenden der Partnerländer als auch von der DDR-Führung selbst vorwiegend positive bis vorbildliche Attribute zugeschrieben.

„Nicht Geldbeutel und Herkunft […] sondern Kenntnisse und Befähigung entscheiden in der DDR über den Ausbildungsweg eines jungen Menschen. Zum ersten Mal wurde auf deutschem Boden das Recht auf Bildung für alle verwirklicht. Da die Arbeit und Bauern in der DDR die Macht ausüben, ist es notwendig, daß [sic!] ihre Kinder besonders sorgfältig ausgebildet werden. Sie sind die zukünftigen Träger des wirtschaftlichen, staatlichen und kulturellen Lebens." (Ausschuss für Deutsche Einheit, 1959, S. 18–19)

In der Praxis der internationalen Bildungszusammenarbeit wurden jedoch die damit verbundenen Bildungskonzepte der DDR, wie das einheitliche sozialistische Bildungssystem (→ Volksbildungswesen) mit der Polytechnischen Oberschule (→ Polytechnische Oberschule (POS)) oder das Erziehungsziel der Entwicklung „allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten“ (MfV, 1965, §1) nur teilweise übernommen und in konkreten Bildungsprojekten realisiert. Dabei wurde der übergeordnete Bildungsmythos von einer ‚Bildung für Alle‘ durchaus reinterpretiert und von den Partnerländern vor allem selektiv und entsprechend den bildungspolitischen Bedarfen vor Ort wahrgenommen.

‚Bildung für Alle‘ in Finnland als Inspiration für reformistische Bestrebungen

Farbaufnahme von der Eröffnung einer DDR-Lehrmittelausstellung in Tampere, Finnland (1960)

In Finnland bestand vor dem Zusammenfall der sozialistischen Staatengemeinschaft 1989/1990 in großen Teilen der Gesellschaft das Bild vom deutschen Musterland DDR, welches die Vorstellung von einem vorbildlichen Sozialismus einschließlich eines leistungsfähigen Bildungssystems für alle in der DDR enthielt (Hentilä, 2005). Die DDR konnte sich in dieser bilateralen Beziehung in einer Art Selbstmythologisierung (→ Mythos) als erfahren und uneingeschränkt erfolgreich im Aufbau eines im Vergleich zu anderen Staaten besseren Bildungssystems mit der Kernidee einer ‚Bildung für Alle‘ präsentieren (Weiß, 2020). Dabei übertrat die DDR mit der Finnland-Kooperation erstmals den sozialistischen Bildungsraum und konnte sich so ein neutrales Urteil im nicht-sozialistischen Ausland einholen (Griese, 2006). Umgekehrt wurde die finnische Bildungsreformen der 1970er-Jahre durch einen vieldimensionalen Austausch mit der DDR sozialistisch begleitet und beurteilt. Über den gesamten Zeitraum dieser ungewöhnlichen Bildungskooperation hinweg entstanden fachliche und pädagogische Kontaktpunkte zwischen Institutionen und Personen der DDR und Finnlands (Weiß, 2023), u.a. durch den Austausch von Forschungsergebnissen, bei der Erprobung von DDR-Unterrichtsmaterialien in finnischen Experimentierschulen, bei gegenseitigen Schulbesichtigungen und Unterrichthospitationen sowie im Rahmen von Ausstellungen zum DDR-Bildungssystem in Finnland.

‚Bildung für Alle‘ in Mosambik als anti-kolonialer Befreiungsakt

Cover eines portugiesischsprachigen Mathebuchs für die 2. Klasse, FRELIMO (1972) Quelle

In Mosambik entwickelte sich das Streben nach einer ‚Bildung für Alle‘ aus dem anti-kolonialen Kampf heraus, da das Bildungssystem in der damaligen portugiesischen Kolonie bis zur Unabhängigkeit 1975 von einer eklatanten und rassistischen Benachteiligung der Schwarzen Bevölkerung 2 geprägt war (vgl. Mondlane, 1969). Die Unabhängigkeitsbewegung FRELIMO (Frente de Libertação de Moçambique, deutsch: Mosambikanische Befreiungsfront) kämpfte seit 1964 gegen die Kolonialmacht Portugal und wurde dabei von Solidaritätspartnern aus der ganzen Welt ideell, finanziell und militärisch unterstützt (vgl. Gaspar, 2014). Die DDR entsandte ab 1967 auch Lehrkräfte an FRELIMO-Schulen, die im Untergrund operierten, elementare Schulbildung für Kinder anboten und Alphabetisierungskurse für die FRELIMO-Kämpfer*innen und die Landbevölkerung durchführten (vgl. Roos, 2005; Zawangoni, 2007). In dieser Zeit entstanden in Zusammenarbeit mit dem DDR-Mathematiklehrer Joachim Kindler die ersten Mathematik-Lehrbücher der FRELIMO (1971; 1972), welche später auch von den portugiesisch-sprachigen Befreiungsbewegungen in Angola (MPLA) und Guinea-Bissau (PAIGC) übernommen wurden (vgl. Tullner, 2020; Vaz Borges, 2023). Die Erinnerung an die bildungspolitischen Errungenschaften aus der Zeit des Unabhängigkeitskampfes wurden in der Volksrepublik Mosambik auch nach 1975 aufrecht erhalten (vgl. Gómez, 1999) und von der nun regierenden FRELIMO-Partei als ideelles Bildungsmoment des Befreiungskampfes mythologisiert (→ Mythos), sowie in den nationalen Erinnerungskanon aufgenommen (vgl. Coelho, 2013; Cabecinhas & Mapera, 2020). Im nachkolonialen Mosambik bestand die Kooperation mit Lehrkräften aus der DDR bis 1990 weiter fort und die sozialistische Konnotation einer ‚Bildung für Alle‘ schlug sich u.a. im ersten mosambikanischen Bildungsgesetz von 1983 nieder (vgl. Martini, 1989; Castiano, 1997; Tullner, 2005).

‚Bildung für Alle‘ in Nicaragua als Meilenstein im revolutionären Übergang

Margot Honecker bei der Einweihung eines Polytechnischen Zentrums in Nicaragua (1984)

In Nicaragua erwies sich die DDR zur Zeit der revolutionären Phase (1979–1990) als bevorzugter Kooperationspartner in Bildungsfragen der regierenden FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional, deutsch: Sandinistische Nationale Befreiungsfront). Obwohl zeitgleich tausende kubanische Berater*innen und Lehrkräfte im Bildungsapparat und bei der landesweiten Alphabetisierungskampagne von 1980 aktiv beteiligt gewesen waren (vgl. Arnove, 1986), wurde vonseiten der nicaraguanischen Revolutionäre das allgemeinbildende Schulsystem der hochindustrialisierten DDR im direkten Vergleich mit Kuba positiver bewertet. Umgekehrt entschied sich auch die SED-Führung zu einer umfangreichen Unterstützung Nicaraguas in Bildungsfragen (vgl. Caruso & Kliche, 2023), obwohl die eklektische Auslegung des Marxismus sowie die befreiungstheologischen Einflüsse innerhalb der FSLN auf DDR-Seite zunächst als ideologisch (→ Ideologie) „außerordentlich konfus“ beargwöhnt wurden (vgl. Winkelmann, 1979, S. 5).   Dennoch wurde durch die DDR eine große Bandbreite an Solidaritätsleistungen für Nicaragua organisiert, darunter der Druck der ersten Auflage der landesweit eingesetzten Lesebücher „Los Carlitos“ (vgl. Harzer & Volks, 2008) und der Bau eines komplett ausgestatteten Polytechnischen Ausbildungszentrums durch FDJ-Brigaden (vgl. Senger, 2018) (→ Polytechnische Oberschule (POS); Polytechnischer Unterricht). Einen wichtigen Stellenwert bei der Umsetzung einer ‚Bildung für Alle‘ in Nicaragua hatte – neben der Alphabetisierungskampagne – die immaterielle Bildungshilfe der DDR in Form von kostenfreiem Wissenschaftstransfer und der Ausbildung tausender Studierender, Lehrerbildner*innen (→ Lehrerbildung) und Schulleitungen in der DDR.


Anhand der untersuchten Bildungskooperationen der DDR wurde nachvollziehbar, wie der transnational zirkulierende Bildungsmythos (→ Transnationale Verflechtungen) einer ‚Bildung für Alle‘ in den Partnerländern Finnland, Mosambik und Nicaragua auf das real existierende Bildungssystem der DDR (→ Volksbildungswesen) projiziert und dieses so in gewisser Weise idealisiert wurde. In den Partnerländern blieben die Interpretationen des Bildungsmythos und die Umsetzung einer ‚Bildung für Alle‘ allerdings von den historischen und sozio-ökonomischen Kontexte vor Ort geprägt. Dabei erfolgte die Übernahme einzelner Bildungskonzepte aus der DDR durch die Partnerländer stets aus einer Mischung von pädagogischem Interesse und politisch-ideologischer Passung heraus, ohne das DDR-Bildungssystem vollständig zu kopieren.

Im Rahmen dieser Bildungskooperationen war die DDR offensichtlich bemüht, die Überlegenheit des sozialistischen Bildungsmodells, in welchem ‚Bildung für Alle‘ als weitestgehend realisiert galt, zu präsentieren und zu propagieren. Zugleich erfolgte diesbezüglich eine Binnenkommunikation in die Öffentlichkeit der DDR hinein, wobei wiederum die internationale Anerkennung für das Bildungssystem der DDR hervorgehoben wurde, u.a. über Presseberichte oder Solidaritätskampagnen. Letztlich lag in dem internationalen Engagement der DDR für die – jeweils lokal reinterpretierte – ‚Bildung für Alle‘ ein durchaus identifikationsstiftendes Potenzial, welches in der eigenen Öffentlichkeit zur Selbstvergewisserung beitrug, im Ausland für Anerkennung sorgte und selbst über Systemgrenzen hinweg als konsensfähig erschien.

Fußnoten
  • [1]

    Das Versprechen einer „hohe[n] Allgemeinbildung für alle Kinder des Volkes“ war im Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem von 25. Februar 1965 festgeschrieben. Nach §2 diese Gesetzes sichert der sozialistische Staat „allen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik das gleiche Recht auf Bildung“ (ebd.). Kritisch zur Umsetzung dieses Versprechens in der DDR, siehe z.B. Solga (1996) und Miethe (2007). Die Formulierung geht auf das im 16. Jahrhundert formulierte Bildungsideal des Comenius, „alle alles ganz zu lehren“, zurück und wurde darauffolgend in Form der Einheitsschulidee der bürgerlichen Bildungsmoderne des 19. Jahrhundert in die deutsche Bildungsgeschichte eingeschrieben (vgl. Weiß, 2023a; Geißler & Wiegmann 1995).

  • [2]

    „Schwarz“ wird hier großgeschrieben, um auf die rassifizierende Zuschreibung im kolonialen System hinzuweisen. Im portugiesischen Kolonialreich wurden Kategorien wie indigen, gemischt, assimiliert, oder zivilisiert benutzt, um die Bevölkerung entlang von körperlichen Merkmalen, kultureller Zugehörigkeit und sozio-ökonomischem Status zu klassifizieren und zu hierarchisieren. Bildungschancen innerhalb dieser Hierarchie waren vorrangig den weißen, portugiesisch-stämmigen Menschen in Mosambik vorbehalten, während für BiPoC die Bildungsteilhabe nahezu verunmöglicht wurde (vgl. Mondlane, 1969; siehe auch https://glossar.neuemedienmach... oder https://www.amnesty.de/glossar...).

Literatur
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Quellen

Die Broschüren wurden für die auslandsinformatorische...

Ausschnitte aus portugiesischsprachigen Schulbüchern

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