Gemeinschaft

In der DDR spielten Gemeinschaften, hier ‚Kollektive‘ genannt, wie die Klasse in der Schule oder Gruppen bei den Jungen Pionieren und der FDJ, eine herausragende Rolle. Entsprechend sind Gruppenzugehörigkeiten in Interviews mit Zeitzeug*innen ein Thema, das oft den Hintergrund von biografischen Erzählungen bildet.

Cover und Klappenseite von BBF/DIPF/Archiv: IZJ JUG 53, IXXIII, 1203 und BBF/DIPF/Archiv: IZJ JUG 53, 118I, 229. Quelle

Wenn Gemeinschaften in den Berichten überhöht und dabei gegen Kritik oder Widersprüche abgesichert werden, erfahren sie eine Mythisierung (→ Mythos). Die erinnerten Erfahrungen werden zu unangreifbaren Bewertungen der Gemeinschaftsformen und Vergemeinschaftungen, die herausgehoben werden. Anhand von drei Fällen soll im Folgenden nachvollzogen werden, wie sich Mythisierungen von Gemeinschaftserfahrungen in unterschiedlichen Ausprägungen im Rahmen von Erzählungen zeigten: Sie beziehen sich auf institutionalisierte Gruppen, politische Identifikation und Gegenkollektive. Die erste Erzählung bezieht sich zunächst auf Erfahrungen in institutionalisierten Gruppen.

Zugehörigkeit als Selbstfindung: Maria Findig und die Jungen Pioniere

Maria Findig 1 wurde 1976 in einer Kleinstadt in der DDR geboren. Sie erlebte das politisch-gesellschaftliche System während ihrer Kindheit und frühen Jugend. Ihre ersten Erinnerungen beziehen sich auf die Schule, in der ihr Dinge wie Micky Maus-Hefte, die sie von Verwandten aus dem Westen bekommen hatte, von Lehrer*innen weggenommen wurden. Sie erläutert, diese Sanktionen als Kind nicht verstanden und auch nicht mit dem Staat in Verbindung gebracht zu haben. In diesem Zusammenhang kommt sie auf die Jungen Pioniere (siehe auch Quellenfokus Pioniererzählungen) zu sprechen, die sie ebenso wenig mit dem Staat assoziiert habe. Die Pioniere beschreibt sie als wichtiges Element ihrer Entwicklung. Sie sei dort Gruppenratssprecherin2 gewesen und habe Aktivitäten wie Basteln mitgemacht, ohne zu bemerken, dass in der Organisation auch die Ideologie des Staates vermittelt wurde. Die Gemeinschaft bei den Pionieren beschreibt sie anhand ihres Identifikationspotenzials:

„Ich denk das is so'n Grund, bei vielen Menschen auch Kindern dass mer irgendwo 'ne Zugehörigkeit brauch'. Man sucht was. Und das war so'ne Sache das war'n Pioniere die tragen alle 'n Halstuch. (I: hm) Ich denke das 's auch so'n bisschen bei den Pfadfindern was mich so reizt (irgendwie). Dieses, man hat was, wo man sich halt drüber identifizieren kann. Das is meine Gruppe. Ich gehör dazu. Ich bin dort wer.“

Findig nennt als Grundlage für Gemeinschaft ein überindividuelles Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Aus diesem Bedürfnis resultiert eine Suche nach Integrationsmöglichkeiten, als deren mögliches Ziel die Jungen Pioniere aufgeführt werden. Die einzelnen Personen gehen laut Findig aber nicht in dem Kollektiv unter. Im Gegenteil, erst die Gruppenzugehörigkeit schafft die Möglichkeit, jemand zu sein, sich als Individuum zu entfalten. Dabei ist die Gruppenzugehörigkeit nicht nur formal gegeben: Das Halstuch markiert die Kinder als Teil der Gemeinschaft.

Zwei Aspekte in Findigs Erzählung deuten auf eine Mythisierung ihrer Gemeinschaftserfahrung in einer institutionalisieren Gruppierung: Sie kennzeichnet in obigem Zitat die Gemeinschaft als Voraussetzung der Selbstfindung. Außerdem verteidigt sie die Organisation gegen die Kritik der Ideologisierung (→ Ideologie), indem sie ihre Kindheitserfahrungen entpolitisiert: Als Kind habe sie den politischen Hintergrund dieser Gruppen schlicht nicht verstanden und so habe auch keine Ideologisierung stattfinden können. Die Gemeinschaft der Jungen Pionieren bleibt in der Erzählung auf ihre Zugehörigkeits- und Selbstfindungsfunktionen beschränkt.

Politische Identifikation: Steffen Ingelhart und der Putsch in Chile

Steffen Ingelhart ist Jahrgang 1956 und wurde in einer Stadt in der DDR geboren. Auch sein Bildungsweg vollzog sich in der DDR. Er studierte Medizin und absolvierte eine Facharztausbildung zum Pathologen. Am Beginn des Interviews berichtet er, keine negativen Erfahrungen mit Sanktionen oder autoritären Strukturen gemacht zu haben. In seinen Erzählungen geht er auf seine Schulzeit ein und thematisiert u.a., wie er als Schüler 1973 von dem Putsch in Chile erfahren hat. Der FDJ-Sekretär der Schule habe den Feueralarm betätigt. Und als sich Schüler*innen auf dem Schulhof versammelt hätten, habe der Mann sie über den Militärputsch aufgeklärt:

„[…] also ich denke mir er war FDJ-Sekretär der Schule, is dann vor uns hingetreten un hat mit Tränen in’n Augen uns das erzählt un eben gesagt hat, also was er jetzt wirklich gesagt hat weiß ich nich mehr aber er hat uns das geschildert mit diesem Putsch, dass diese linke Regierung da weggeputscht worden is un' dass der Präsident Allende tot is und das war überhaupt nich aufgesetzt. Also ich hab das so, damals weiß ich, dass ich unheimlich traurig war, dass mich das unheimlich aufgeaufgerüttelt hat und der stand wie gesagt in Tränen in den Augen, un' weiß nich' wahrscheinlich dann viele unter uns doch da un' ham un' ham geheult.“

Die Erzählung ist um die Emotionalität des FDJ-Sekretärs und der Schüler*innen zentriert. So informiert der Funktionär nicht nur über ein Ereignis, er vermittelt es als Geschehen, das emotional erschüttert. Entsprechend reagieren auch Schüler*innen. Ingelhart selbst attestiert sich in dieser szenischen Beschreibung Traurigkeit. Auf diese Weise wird eine politische Identifikation mit der linken Regierung Chiles buchstäblich verkörpert. In der Erzählung wird eine virtuelle Gemeinschaft zwischen der DDR und Chile konstruiert. Die beiden Länder waren nicht offiziell Verbündete, aber über die politische Ausrichtung entstand eine Verbundenheit ‒ zumindest im Zusammenhang mit dem politischen Ereignis.

Ingelhart beschreibt eine politische Gemeinschaft, die über konkrete Beziehungen zwischen Staaten hinausgeht und als weltanschaulich verankerte erlebt wird. Das Erleben einer solchen Gemeinschaft wird in der Erzählung über Authentifizierungsverweise, etwa dass der Sprecher geweint habe, abgesichert. Diese Mythisierung von Gemeinschaft rekurriert auf eine politische Konstellation, die mit der sozialistischen Ausrichtung der DDR und der Allende-Regierung in Chile verbunden ist.

Kritisches Kollektiv: Hans George und der Diskussions-Club

Hans George ist 1954 in einer kleinen Stadt in der DDR geboren. Er studierte Staatsbürgerkundeunterricht und Geschichte und arbeitete danach als Lehrer. Im Kontext seiner Erfahrungen als Schüler erzählt er von einem Diskussions-Club, den er zusammen mit einem Mitschüler gegründet hat und der sich aus dem Klassenkollektiv (→ Kollektiv) speiste:

„Und, wie gesagt, das fand ich eigentlich an der Schule auch gut, daß die Klasse da, das hat gestimmt, da haben wir gute Freundschaften gehabt muß ich sagen, ehrliche Freundschaften, da war da nich so'n Gezänke oder sonst wie, naja, und wir waren auf jeden Fall, war ich immer, eh, sehr politisch engagiert (I: Hm, hm) Hja, links engagiert, ja, aber ebend, man muß sagen, im Widerspruch zu dem, was eigentlich der Sozialismus eigentlich immer so hervorgebracht hat (I: Hm, hm) ja, das war, ja, das war schon dann 70 - (lacht) weil uns eigentlich diese politischen Diskussionen politscher Themen an der Schule nich genug gegeben hat, jetzt auch Staatsbürgerkunde (I: Ja, ja, ja) eh, haben wir selber 'n Club gegründet, einen Diskussions-Club.“

Die Schulklasse ist die Grundlage für eine weitere Gruppierung, in der kritischere Diskussionen als im Unterricht möglich sein sollen. Hier wird ein Gegenkollektiv gegründet, das ein emanzipatorisches Potenzial verspricht, weil Grenzen des Diskutierens verschoben werden sollen. Allerdings beschreibt George im weiteren Verlauf der Erzählung, dass die Diskussionsgruppe vom Direktor der Schule verboten werden sollte, was die Schüler*innen aber verhinderten, indem sie die Kreisleitung der SED3 auf ihre Seite holten. Daraufhin sei der Schuldirektor sanktioniert worden.

George berichtet von einem emanzipatorisch ausgerichteten Gegenkollektiv (→ Kollektiv). Die Abgrenzung von den vorgegebenen Gruppierungsstrukturen beinhaltet eine Aufwertung der eigenen Gruppe bzw. Vergemeinschaftungsform. Hier zeigt sich allerdings ein Widerspruch, da der Diskussions-Club mit den politischen Strukturen gerettet wurde, die er kritisieren wollte. Dieser Widerspruch geht in der Heldenstruktur der Geschichte unter: Die Schüler*innen siegen über den Direktor. Die Mythisierung der Gemeinschaft richtet sich hier auf Gruppierungen jenseits vorgängiger Strukturen.


Die vorgestellten Ausprägungen des Gemeinschaftsmythos haben gemeinsam, dass besondere soziale Konstellationen in der DDR aufgewertet werden. Für die Ausprägung des Mythos, welche sich auf institutionalisierte Gruppen bezieht (Fall Maria Findig), fungiert Gemeinschaft als Bedingungsgrundlage für Individualität. Selbstentfaltung ist demnach der Wert, der hinter der Verbindung von Kollektiv und Individuum steht. Dagegen rekurriert die Ausprägung, welche auf politische Identifikation verweist (Fall Steffen Ingelhart), auf Solidarität als moralischen Hintergrund. Weltanschauliche Ähnlichkeiten im Rahmen des Sozialismus erzeugen eine emotional getragene Verbundenheit. Die mit Gegenkollektiven verbundene Ausprägung des Gemeinschaftsmythos (Fall Hans George) bezieht sich wiederum auf Emanzipation als zugrundeliegendes Ideal und zeigt die Möglichkeit einer gemeinschaftlich-kritischen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus auf.

Die ersten beiden Gemeinschaftsmythen haben die Funktion, sich gegen mögliche Kritik an der DDR abzusichern. Entsprechende Argumente oder Beschreibungen dafür werden in den biographischen Erzählungen ins Feld geführt. Dagegen wird der Mythos, der das Gegenkollektiv als emanzipatorisch überhöht, von einem Widerspruch zwischen Ideal und tatsächlichem Handeln bedroht, der nicht artikuliert wird. Hier wird das Gegengewicht zur Überhöhung in einer Heldennarration aufgelöst, die die Strukturbedingung des Sieges ausblendet. Der Gemeinschaftsmythos basiert – vor dem Hintergrund der geschilderten Fälle – auf einem strukturellen Zusammenhang, der sich in biografischen Erzählungen findet: Die Aufwertung anhand verschiedener Ideale steht infrage und muss in sich begründet oder narrativ aufgelöst werden.

Fußnoten
  • [1]

    Alle Namen sind Pseudonyme.

  • [2]

    Der Gruppenratssprecher bzw. die Gruppenratssprecherin vertrat die Pionierorganisation in der Schule. Zwischen den schulischen und außerschulischen Bildungsorganisationen gab es in der DDR eine enge Verbindung.

  • [3]

    Die Kreisleitung war ein Leitungsorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der Staatspartei der DDR.

Quellen

Gespräche von Grundschulkindern mit Zeitzeug*innen

Material aus der BBF-Sondersammlung zum IZJ

Alle Mythen

Die Vorstellung eines Fortschritts durch Wissenschaft ließ Bilder eines technikorientierten, effektiven, an Wissenschaftlichkeit orientierten Unterrichts entstehen.

Ein zentraler Bildungsmythos im Rahmen des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs der DDR war der einer verwirklichten ‚Bildung für Alle‘.

Das Narrativ der Geschlechtergerechtigkeit war ein wichtiges Element des staatlichen Selbstverständnisses in der DDR und der Versprechen des Sozialismus.

Illustration von Werner Klemke in einem DDR-Lesebuch für die 2. Klasse. Darauf ist eine Frau zu sehen, die sich über einen Schreibtisch beugt, an dem ein Mädchen sitzt. Die Frau hält ein Heft. Die Illustration ist mit "Wir helfen Bärbel" betitelt.

Der sogenannte antifaschistische Gründungsmythos gehörte als systemkonsolidierendes Narrativ zum Selbstverständnis der DDR.

Kinder sollten in der DDR zu ‚sozialistischen Persönlichkeiten‘ gebildet werden. Wie beschreiben Zeitzeug*innen ihre Kindheit in der DDR gegenüber heutigen Kindern?

Die Kinderzeitschrift "Bummi" erschien von 1957 bis 1989 im Verlag "Junge Welt".