Antifaschistische Gründung

Der sogenannte antifaschistische Gründungsmythos gehörte als systemkonsolidierendes Narrativ zum Selbstverständnis der DDR. Nach ihm war die Gründung der DDR von deutschen Antifaschist*innen der Hitlerzeit ausgegangen, deren Werten man in der Folge verpflichtet sei. Da die DDR in dieser Tradition agierte, schien gleichzeitig eine selbstkritische Aufarbeitung einer nationalsozialistischen Vergangenheit unnötig. Im Unterricht an Schulen der DDR sollten spezifische Überzeugungen und eine emotionale Bindung zum antifaschistischen Gründungsmythos vermittelt werden, um die Gründung der DDR zu legitimieren und sich gegenüber der damaligen Bundesrepublik zu profilieren.

Mythen und Mythisierungen von Zeitgeschehen und historischen Ereignissen können kollektive Sinn- und Identitätsstiftungsprozesse orientieren (→ Mythos). Dadurch wirken sie auch legitimierend für Konstrukte wie z.B. Nationen. Seit den 1990er-Jahren wird hierzu intensiv geforscht – auch konkret in Bezug auf den deutschen Nationalstaat (u.a. Wülfing, Bruns, Parr, 1991; Münkler, 2009). Um auf diese Weise wirken zu können, müssen historische Ereignisse oder kollektiv als relevant erachtetes Geschehen selektiert und in ein ‚kollektives Gedächtnis‘ integriert werden. In ihren Forschungen zum kollektiven Gedächtnis konnten Jan und Aleida Assmann zeigen, dass auch zusammenhängende Mythen als Sinnstifter und plausibilisierende Narrative in das kollektive Gedächtnis integriert werden (u.a. Assmann, 1988; Assmann & Harth, 1991). Auch in Bezug auf die DDR wurde, beispielsweise von Raina Zimmering (2000), untersucht, in welchem Maße „Mythen in der Politik der DDR“ zur Identitätsstiftung, Sinnstiftung und auch zur Plausibilisierung politischen Handelns eingesetzt wurden.

Vor dem Hintergrund der vorherigen Jahrzehnte, in denen der Bevölkerung die Zugehörigkeit zu einem Volk und eine gedankliche Priorisierung eines „Vaterlandes“ intensiv vermittelt worden war (u.a. Kuby, 1959, S. 104), war es notwendig, altes Gedankengut durch neues zu überschreiben und zur Bildung einer neuen nationalen Identität beizutragen. Diese Art der Identitätsstiftung wurde in der DDR über die „Gründungsrechtfertigung“ (Zimmering, 2000, S. 38) Antifaschismus realisiert, für die auch etablierte Muster aufgegriffen und für die neue, nunmehr antifaschistisch argumentierende Ideologie erschlossen wurden (u.a. Dietrich, 2020, S. 797).

Schulausstellungselement "Militärpolitisches Kabinett", Fotografie in Richter & Schlender, 1978, Anhang S. 33 oben Quelle

Der antifaschistische Gründungsmythos wurde also im Dienst einer Macht- und Systemkonsolidierung installiert und durch entsprechende – konstante und neue – Narrative und Ikonografien verbreitet (Zimmering, 2000, S. 38). So wurde nicht nur die Gründung der DDR, sondern auch „eine ganze Reihe anderer historischer Ereignisse“ als antifaschistisch verstanden, darunter „der deutsche Bauernkrieg, die deutsche Klassik, die Arbeiterbewegung und die russische Oktoberrevolution, die durch ihr Fortleben in der DDR zu einer besseren Gesellschaft führen würden und eben den Wendepunkt in der deutschen Geschichte begründeten“ (ebd.). So trug auch die Geschichtswissenschaft durch Selektion und Übergewichtung von Fakten im Sinne des Narrativs zur Konstitution und Konsolidierung von Mythen bei, die ein vom vormaligen deutschen Staat unabhängiges Selbstverständnis der DDR als eigenständiger Nation untermauerten.

Der DDR-Schulunterricht als Mythenstifter?

Während insgesamt die Vermittlung politisch-ideologischer Inhalte Teil des Unterrichts vieler verschiedener Fächer (z.B. Staatsbürgerkunde, Wehrerziehung und Wehrunterricht, Naturwissenschaften usw.) war, wurden Elemente der antifaschistischen Gründung besonders im Literatur- und Geschichtsunterricht vermittelt. Bereits Ende 1945, wenige Monate nach Kriegsende, folgte die Bereitstellung erster Schulbücher, die entsprechend dem Befehl Nr. 40 der Sowjetischen Militäradministration vom 25.08.1945 durch die Beschäftigung mit ‚geeigneten‘ literarischen Werken plausibilisierende Narrative für eine antifaschistische Gründung liefern sollten. Diese fand man zunächst vor allem in der sowjetischen Literatur der 1920er-Jahre (u.a. von Brand & Koebe, 2022, S. 2), aber zunehmend auch bei deutschen Schriftsteller*innen, die sich aus dem Exil heraus kritisch mit dem Hitler-Regime auseinandergesetzt hatten. Gleichzeitig ging eine Unterrichtsarbeit mit mythenbildenden literarischen Texten mit einer vorgeblich rein wissenschaftlichen, aber bei näherer Betrachtung doch mythenstiftenden Geschichtsvermittlung im Geschichts- und Staatsbürgerkundeunterricht einher (u.a. Dietrich, 2020; Zimmering, 2000).

Geschichts- und Staatsbürgerkundeunterricht erfüllten hier eine legitimierende Rolle, hatten also die Aufgabe, die historische Verankerung der literarischen Narrationen zu verdeutlichen, die damit als quasi-exemplarische Schilderungen realer Schicksale aus der erzählten Zeit gelesen werden konnten. Auch dem Literaturunterricht kam von Beginn an eine entscheidende Rolle zu, weil speziell hier über Geschichten und Erzählungen Emotionen hervorgerufen und mit antifaschistischen Überzeugungen verbunden werden konnten. Die Widersprüchlichkeit zwischen dem Anspruch auf eine mit Antifaschismus verknüpfte gerechtere und freie Gesellschaft auf der einen und der Ungerechtigkeiten und Unfreiheiten produzierenden Interessenbezogenheit der Elite auf der anderen Seite trat hier nicht so offen zutage, wie im Geschichtsunterricht (Zimmering, 2000, S. 43). Anhand einer Analyse der DDR-Lehrpläne wurde ein Set an Mythemen rekonstruiert, aus denen sich die Erzählung der antifaschistischen Gründung konstituierte (vgl. Zimmering, 2000, S. 44–55; Münkler, 2009, S. 79–81 sowie S. 93–95) und die fest eingehegt waren in eine sozialistische (→ Sozialismus) bzw. marxistisch-leninistische (→ Marxismus-Leninismus) Interpretation der geschichtlichen Entwicklungen rund um den 2. Weltkrieg. Damit ging eine Überhöhung der sowjetischen Roten Armee als einzig wirkliche Siegermacht des 2. Weltkrieges einher, legitimiert durch deren Opferzahlen und die harten Kämpfe an der Ostfront ebenso wie ihre sozialistisch-antifaschistische Haltung. Gleichzeitig wurden Leistungen der anderen Streitkräfte der Alliierten vernachlässigt und sowjetische Kriegsverbrechen in Deutschland negiert.

Schulausstellungselement "Militärpolitisches Kabinett", Fotografie in Richter & Schlender, 1978, Anhang S.32 unten Quelle

Die Erzählung fußte zunächst auf einer zwingenden Verbindung von Kapitalismus und Faschismus aus dem Verständnis heraus, dass Kapitalismus den Nährboden der faschistischen Ideologie bereite und die Rahmenbedingung für dessen Etablierung schaffe – einhergehend mit einer konsequenten Nichtthematisierung anderer Ausprägungen von Diktatur. Entsprechend wurde die Gründung der DDR als notwendige Konsequenz aus einer zwingend nötigen Abgrenzung von Kapitalismus und Faschismus ausgewiesen und darüber ein Transfer des Feindbildes vom Faschismus auf den westdeutschen Kapitalismus bzw. Imperialismus produziert. Dies geht einher mit der Konturierung einer Bedrohungssituation durch die den antifaschistischen Arbeiter- und Bauernstaat aktiv bekämpfenden westlichen Kräfte. Gleichzeitig werden Identität und Gemeinschaftsgefühl über ein Feindbild gestärkt (eines der Kernprinzipien von Mythenbildung – siehe u.a. Wülfing, Bruns, Parr, 1991).

Vor diesem Hintergrund eines prinzipiellen Antagonismus von sozialistischen und kapitalistischen Kräften erfolgte eine Verortung der Arbeiterklasse als grundsätzlich antifaschistische und größte Gegnerschaft Hitlers in dessen Herrschaftszeit und eine Einordnung der KPD als einzige wahre „Spitze aller deutschen Antifaschisten“ (Lehrbuch der Geschichte. Klasse 10, 1976, S. 49; zitiert nach Zimmering, 2000, S. 48) in Abgrenzung von der von rechten Kräften und Kollaborateuren ‚durchsetzten‘ SPD. Damit galt die kommunistische Partei unanfechtbar als führende, die Arbeiterklasse in Gänze repräsentierende und einigende innerdeutsche Kraft bei der Überwindung des Nationalsozialismus und dem Aufbau einer antifaschistischen Gesellschaftsordnung (womit sie ihren Führungsanspruch bzw. den der Nachfolgepartei SED legitimierte). Der Aufbau eines antifaschistischen, sozialistischen Staates DDR wurde also als ein vor allem aus eigener Kraft und mit eigenem Antrieb der Bevölkerung vollzogener Prozess dargestellt, der maßgeblich von der nunmehr älteren Generation getragen wurde (und diese damit pauschalisierend der Verantwortungsübernahme für Verbrechen der Hitlerzeit enthob).



Im Deutschunterricht sollten, so die Vorgaben der Lehrpläne und Anleitungen in den Unterrichtshilfen, der antifaschistische Gründungsmythos und die hier kurz umrissenen Mytheme stärker über emotionalisierende und damit eher Überzeugung als Wissen stiftende Narrative transportiert werden: In etwas vergröbernder Weise kann man festhalten, dass „[…] der Deutschunterricht darauf ausgelegt war, eine politisch nicht weiter differenzierte emotionale Bindung an den Antifaschismus zu vermitteln und Sympathie für diejenigen zu wecken, die dem Nazi-Regime Widerstand geleistet hatten“ (Münkler, 2004, S. 88).

Literatur
  • Assmann, J. (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Hölscher, T. & Assmann, J. (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9–19.

  • Assmann, J. & Harth, D. (1991): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt a.M.: Fischer.

  • Dietrich, H. (2020): Kulturgeschichte der DDR in 3 Bänden. Bd. 2. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

  • Kuby, E. (1959): Nur noch rauchende Trümmer. Hamburg: Rowohlt.

  • Münkler, H. (2004): Antifaschismus als Gründungsmythos in der DDR. Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen. In: Agethen, M./ Jesse, E./ Neubert, E. (Hrsg.): Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken. Freiburg: Herder.

  • Münkler, H. (2009): Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt.

  • Wülfing, W./ Bruns, K./ Parr, R. (1991): Historische Mythologie der Deutschen. München: Fink.

  • von Brand, T. & Koebe, K. (2022): Die „Timurbewegung“ der DDR im Spiegel der Pädagogischen Lesungen. In: Schriftenreihe der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock 16, 3.

  • Zimmering, R. (2000): Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung historischer Mythen. Opladen: Leske & Budrich.

Quellen

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