Quellenfokus: Pioniererzählungen
Die Pionierorganisation in der DDR gehörte zur Jugendorganisation FDJ und ihre „höchste Priorität“ lag in „der politisch-ideologischen Erziehung“ (Kaiser, 2022, S.191). Strukturell waren die Pioniere an die Schulen angegliedert, somit war der Schulalltag eng mit der Pionierorganisation verknüpft. Diese enge Verbindung zwischen den Pionieren und der Schule findet sich auch in erzählten Erinnerungen der Zeitzeug*innen in den im Rahmen der Fallstudie zu Kindheitserinnerungen geführten Gesprächen mit heutigen Grundschulkindern wieder. So thematisieren sie die Pioniere stets im Kontext Schule. Im Zentrum steht dabei die Beschreibung von Äußerlichkeiten und organisatorischen Abläufen.
Deutlich wird dies beispielsweise in diesem Zitat aus einem der geführten Gespräche mit Herrn Erle 1 (*1965):
„Und zwar, wenn man zur Schule gekommen ist, war man ein Jungpionier. Da gab es dann solche Pionierhalstücher. Ne? Und diese weißen Hemden. An der Seite hatte man so'n Pionieremblem. Und in der vierten Klasse wurde man dann ein Thälmannpionier, dann kriegte man ein rotes Halstuch. Also man musste das nicht jeden Tag tragen, aber es gab dann Tage, wo dann zum Beispiel so Fahnenappell war. […] Da haben sich dann alle vor der Schule praktisch in so 'nem 'U', in 'ner U-Form aufgestellt. und dann wurde gesagt, was alles so passiert ist und wenn Sportfeste waren, das wurde alles angekündigt.“
In seiner Erzählung erfolgt mit dem Schuleintritt auch der Eintritt in die Pionierorganisation. Diese Erzählung ist typisch für die erzählten Erinnerungen in den Interviews zwischen älteren Menschen aus der DDR und heutigen Grundschulkindern. Alle Kinder waren demnach in ihrer Schulzeit Pioniere – Kinder, die nicht Mitglied waren, werden in den Gesprächen nicht thematisiert. Seine Beschreibung der Pioniere findet sich ebenso in den anderen Interviews wieder: Diese werden insbesondere hinsichtlich der blauen Halstücher beschrieben, aber auch die weiteren Kleidungsstücke der Pionieruniform werden von den Zeitzeug*innen aufgegriffen. Damit bewegen sich die erzählten Erinnerungen vorwiegend in Beschreibungen von Äußerlichkeiten. Den Fahnenappell beschreibt Herr Erle anhand organisatorischer Abläufe. Auch diese Erzählung zeigt sich immer wieder in den durchgeführten Interviews.
In Gesprächen 2 mit Frau Hainbuche (*1967), Frau Weide (*1969), Frau Dattelpalme (*1965) und Frau Linde (*1943) zeigt sich beispielhaft, welche Erzählungen zu den Pionieren sich in untersuchten Gesprächen zwischen den Zeitzeug*innen mit heutigen Grundschulkindern wiederfinden.
Frau Hainbuche thematisiert die Pioniere zunächst direkt im Zusammenhang mit der Frage nach ihrem Leben. Hierbei wird die Verbindung der Pionierorganisation mit der Institution Schule deutlich. Gleichzeitig zeigt sich anhand ihrer Sprache – sie wechselt vom aktiven „Ich“ ins passivere „man“ –, dass die Teilnahme an der Pionierorganisation für sie ein passiver Akt gewesen zu sein scheint. Sie benennt direkt das blaue Halstuch und den Pionierausweis:
“[…] in der Schule wurde man dann in der ersten Klasse Jungpionier. Also das heißt, man bekam ein blaues Halstuch und ein' Pionierausweis. Und da standen die Zehn Gebote für die Pioniere drinne, wie sie sich zu verhalten hatten. Also immer, immer höflich und immer hilfsbereit und so weiter, da kriegte man so einen Pionierausweis.“
In der weiteren Beschreibung führt Frau Hainbuche Details zur Kleidung aus und spricht über Pioniernachmittage als Freizeitgestaltung. Zuletzt thematisiert sie den Fahnenappell als Versammlung in der Schule und beschreibt dessen Ablauf:
„Da musste ma‘ sich dann auf den Schulhof stellen, jede Klasse einzeln. Dann stand die Direktorin in der Mitte oder Direktor und die und der Klassensprecher […]. Der ging dann vor und meldete, dass die Klasse jetzt ruhig ist und zuhört.“
Frau Weide wird vom interviewenden Kind direkt nach den Thälmannpionieren gefragt. Sie beschreibt diese als Verein in der Schule:
„Also in der DDR war das so, dass man, äh wenn man in die Schule kam, war man halt in der Schule, aber gleichzeitig gab's noch so, vielleicht so'n bisschen so ähnlich, wie heute 'n Sportverein, gab's immer noch so'n Parallelverein. Das waren die, es gab die Jungpioniere.“
Im weiteren Verlauf des Gesprächs beschreibt auch sie die Kleidung anhand der Halstücher, der Pionierblusen und der Käppis. Zudem ordnet sie die Jungpioniere und die Thälmannpioniere den jeweiligen Klassenstufen zu. Das Tragen der Pionierkleidung sei durch die Lehrkraft bestimmt worden und an bestimmten politischen Feiertagen und besonderen Schultagen ein Muss gewesen. Was sie als Pioniere genau getan haben, kann Frau Weide „nicht so richtig erinnern“, sie erinnert sich aber an die Mitgliedsbeiträge, die für Feste und Preise für tugendhaftes Verhalten gesammelt wurden.
Frau Dattelpalme ordnet ähnlich wie die anderen Zeitzeug*innen die Jungpioniere in den Kontext Schule ein. Dabei verweist sie direkt auf die Normalität der Pioniermitgliedschaft in der DDR und erinnert zunächst die symbolischen Halstücher. Anschließend greift sie das Sammeln von Wertstoffen auf und verortet es in einem gemeinwohlorientierten, aber auch politisch gefärbten Kontext: das Spenden-Sammeln für ein Land, das sich im Krieg befindet. Dabei steht neben dem Gemeinwohl auch die Gemeinschaft im Fokus, was sich beispielsweise am durchweg verwendeten Personalpronomen „wir“ zeigt. Sie detailliert dabei das gemeinsame Sammeln und Feiern im Klassenverband:
„Das war ja so 'ne Organisation, wo die Kinder eben - ja, heute würde man sagen für soziale Zwecke Sachen gemacht haben. Was weiß ich, dann haben wir Kuchenbasar gemacht und haben das Geld dann gespendet für, zum Beispiel damals war ja der Vietnamkrieg noch aktuell, 'ne? Haben wir für die Kinder äh im Vietnam Geld gesammelt. Oder dann gab's ja auch diese äh Altstoffe zum Beispiel, wenn du 'n Gurkenglas hast oder so, 'ne? Oder ähm 'ne Weinflasche oder 'ne Tomatenketchupflasche. Das konnten wir alles zum Altstoffhandel bringen, bringen und haben dafür Geld bekommen.“
Anders als Frau Hainbuche und Frau Weide ordnet Frau Dattelpalme die Pioniernachmittage in einen ideologischen Zusammenhang ein: die Gesellschaftsordnung sei den Kindern „eingeimpft“ worden. Hier zieht sie Parallelen zur Gegenwart und vergleicht die Pioniernachmittage mit politischem Unterricht heute. An anderen Nachmittagen ging es, ihrer Erzählung nach, hingegen um das Feiern und Zusammensein. Letztendlich resümiert sie entsprechend ihrer Einstiegserzählung, dass die Pionierorganisation sich vorwiegend durch soziale Projekte charakterisieren lasse.
Frau Linde ist hingegen Teil einer älteren Generation als die anderen Fallbeispiele und hat ihre Kindheit in der Anfangszeit der DDR verbracht. Dennoch weichen ihre erzählten Erinnerungen nur wenig von den anderen ab. Auch sie thematisiert zunächst die Halstücher und beschreibt die Pioniere als Freizeitbeschäftigung, die an die Schule angebunden gewesen sei. Sie spricht zudem von fachwissenschaftlichen „Arbeitsgemeinschaften“. Die eigenen Erfahrungen als Pionierin seien bei ihr positiv in Erinnerung geblieben. Gleichzeitig spricht sie anders als Frau Hainbuche, Frau Weide und Frau Dattelpalme deutlich kritischer von den Pionieren. Frau Linde beschreibt sich dabei als „gläubiges“ Kind, was Gegebenheiten zunächst unkritisch angenommen und erst ab dem frühen Jugendalter kritisch hinterfragt habe. Dabei verortet sich Frau Linde als oppositionell und erzählt, dass sie als Jugendliche kein FDJ-Mitglied gewesen sei und daher „Probleme“ bekommen habe, ohne diese weiter auszuführen:
„Und also da war ich noch gläubig (lacht) als Pionier. Und als ich dann ungefähr so alt war, wie du jetzt [Anm.Red.: 12 Jahre], da habe ich mir so Gedanken gemacht, ja? Wie äh ob das eigentlich taugt und ob das richtig ist und so. Und dann habe ich das nicht mehr mitgemacht und dann bin ich auch nicht in die FDJ gegangen - "Freie Deutsche Jugend" - wie man das erwartet hat. Und dann hab' ich so Probleme gekriegt.“
Die dargestellten erzählten Erinnerungen gestalten sich vorwiegend als Beschreibungen von Äußerlichkeiten. Neben der Kleidung greifen die Zeitzeug*innen auch Freizeitbeschäftigung, Arbeitsgemeinschaften und das Sammeln von Wertstoffen auf. Die Pioniere erscheinen dabei in nahezu allen Erzählungen der interviewten Zeitzeug*innen unpolitisch. Besonders sind hierbei zwei Fälle, die - anders als die anderen Zeitzeug*innen - die Pioniere als politische Indoktrination einordnen: Frau Dattelpalme und Frau Linde. Ihnen steht als Kontrast beispielswiese Frau Hainbuche gegenüber. Sie thematisiert zwar die Zehn Gebote der Pioniere, greift hierbei aber das Tugendhafte (Höflichkeit, Pünktlichkeit) heraus.
Insgesamt erscheinen die Beschreibungen der Zeitzeug*innen schablonenhaft, etwa in der Beschreibung der Pionier-Symbole wie dem Halstuch, und von Ritualen wie den Fahnenappellen, die wiederkehrend in den erzählten Erinnerungen auftauchen. Interessanterweise finden sich diese Erzählungen auch in anderen Studien wieder: So betont Kaiser (2022, S. 196), dass die drei wiederkehrenden Stereotype in den erzählten Erinnerungen über die Kindheit bei den Pionieren „Altstoffsammlungen, Fahnenappelle und das Halstuch“ sind.
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Kaiser, B. (2022): Erziehungs- und Bildungsverhältnisse in der DDR. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
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Peuke, J./ Pech, D./ Urban, J. (2021): Etwas mitgeben – Gespräche zwischen Grundschulkindern und älteren Menschen aus der DDR. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 2, S. 141–159. (Abruf 24.05.2024: https://www.fachportal-paedago...).