Die vielfältigen Bezüge, die sich seit 1989 auf die Motive der Wissenschaftlichkeit und der Indoktrination finden lassen, sollten uns davon abhalten, schnelle Urteile über vermeintliche Tatsachen zu fällen. Begreift man das öffentliche Reden über den guten, schlechten oder auch indoktrinierenden Unterricht der DDR vielmehr als Ausbildungen des kollektiven Gedächtnisses, kann man verstehen, wie Sinn und Ordnungen geschaffen werden, wie die Geschichte der Schule und des Unterrichts seit 1945 gedeutet wird.
Debatten über den DDR-Unterricht seit 1989: Außerordentlicher Unterricht – entmündigender Unterricht?
Immer wieder findet sich in den Medien die Rede vom außerordentlichen Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern. Schon zur Zeit der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz in den 1960er-Jahren wurde die naturwissenschaftlich-technische Leistungsfähigkeit in den Staaten unter sowjetischem Einfluss in Fachdiskursen ebenso reflektiert wie in Unterhaltungsmedien. Dass noch lange nach der Wiedervereinigung Schüler*innen in den ostdeutschen Bundesländern in internationalen und auch innerdeutschen Vergleichen positiv hinsichtlich ihres naturwissenschaftlichen Wissens abschnitten, heizte diese Diskussion später wieder an (vgl. NTV, 2004; Molitor, 2009; Spiewack, 2013). Akteur*innen aus Journalismus, Bildungswesen (→ Volksbildungswesen) und Politik führten dieses Phänomen auf die Arbeit der in der DDR ausgebildeten Lehrkräfte und der hier tradierten Unterrichtskultur zurück. Neben höherer Effizienz und Kontrollpraktiken wurden die fachwissenschaftliche Ausrichtung des Unterrichts und der Vorrang von wissenschaftlich erzeugtem Fach- und Anwendungswissen als Unterscheidungsmerkmale genannt. So konnte man sich nach dem Ende der DDR polarisierend gegen eine vermeintliche ‚Kuschelpädagogik‘ und für die verstärkte Vermittlung von naturwissenschaftlichen Kenntnissen aussprechen.
Eine weitere öffentliche Debatte entzündete sich querliegend dazu schon im Herbst des Jahres 1989. Hier wurden Leistung und moralische Verantwortung der allgemeinbildenden Schulen der DDR diskutiert und gerade die Persönlichkeitsbildung in ‚ideologieanfälligen‘ Fächern (→ Ideologie) wie dem Deutschunterricht geriet in das Fadenkreuz der Kritik. Christa Wolf (1989) warf in einer Ausgabe der auflagenstärksten Wochenzeitung der DDR die Frage auf, ob durch ideologische Verzerrung von Inhalten und die Vermittlungspraxis zur Unmündigkeit erzogen worden war. In über 300 Leserbriefen, die daraufhin in den Wochen vor und nach dem Fall der Mauer verfasst wurden, stritten unterschiedlich Betroffene darüber, ob Schule im weiteren und der Deutschunterricht im engeren Sinne die Ausbildung von sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten nachhaltig eingeschränkt habe (vgl. Gruner, 1990). Noch Jahre später entflammten immer wieder Debatten über die Rolle der zentralen Pädagogischen Leitinstitutionen (→ Pädagogische Leitinstitutionen) und Fachmethodiken der DDR und die indoktrinierenden Intentionen des Fachunterrichts. Zahlreiche Lehrkräfte und Methodiker erlebten diese Konflikte als Abwertung ihrer Ausbildung und Tätigkeit in der DDR. Sie verwiesen demgegenüber auf die Wissenschaftlichkeit der von ihnen entwickelten und genutzten Lehrmethoden und Inhalte wie auch auf ihre Praxisorientierung.
Wissenschaftlichkeit des Unterrichts
Das Motiv der Wissenschaftlichkeit hatte schon weit vor 1989 Aufnahme in die grundsätzlichen Vorstellungen und Zielbestimmungen von Unterricht gefunden. Während der Aufbauphase des Bildungssystems der DDR (→ Volksbildungswesen) wurde der Unterricht „auf wissenschaftlicher Grundlage“ und sein „systematischer Charakter“ als „didaktisches Prinzipien der deutschen demokratischen Schule“ (MfV, 1950) in ministeriellen Verordnungen festgeschrieben. Die Rede von der Wissenschaftlichkeit des Unterrichts betraf in der Lehrerbildung zuallererst Qualität und Legitimität von Inhalten; man orientierte sich vornehmlich an einer fachlichen Systematik der Unterrichtsinhalte. Das Prinzip der Wissenschaftlichkeit bildete in den 1950er-Jahren in pädagogischen und didaktischen Zusammenhängen primär ein Gegenstück zu ‚volkstümlichen‘ Inhalten, Vorstellungen von einer Bildung für das ‚einfache Volk‘ und populären reformpädagogischen Methoden aus der Zeit der Weimarer Republik. Es sollte für die nächsten Jahrzehnte die Programmatik im allgemeinbildenden Unterricht prägen (MfV 1950, S. 5).
In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde an Universitäten und Hochschulen der DDR Unterricht aufwendig gefilmt, um die entstandenen Aufzeichnungen in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften einzusetzen (vgl. Schluß & Jehle, 2013) (→ Lehrerbildung). Das hierbei entstandene audiovisuelle Material dokumentiert insbesondere die Bemühungen um „Wissenschaftlichkeit“ des Unterrichts; die hier produzierten Bilder zeigen, was darunter verstanden und wie Wissenschaftlichkeit von den pädagogischen Akteuren vor und hinter der Kamera inszeniert wurde.
In Videoaufzeichnungen von Physikunterricht mit Klassen aus Ostberliner Schulen der 1970er-Jahre zeigt sich dies im Umgang mit fachlich anspruchsvollen Inhalten und didaktischen Vorgaben – aus Kontextmaterial und Zeitzeugenberichten lässt sich rekonstruieren, dass dieser Umgang als Problemstelle galt. Im Fokus der Kameraeinstellungen der Unterrichtsaufzeichnungen befinden sich die Lehrkräfte, die das Unterrichtsgespräch und die inhaltliche Vermittlung stark strukturieren. Gleichzeitig bilden Schüler*innenexperimente bzw. Frage-Antwort-Sequenzen, in denen auf exakten Sachbezug geachtet wird, einen Kern des Unterrichtsgeschehens. In den Aufzeichnungen wird eine wiederkehrende, stereotype methodisch-didaktische Linienführung sichtbar: Das Unterrichtsgespräch wird zunächst zur Auswertung und Erklärung experimentell demonstrierter physikalischer Phänomene eng und dann kleinschrittig bis hin zur sogenannten Verallgemeinerung der Erkenntnisse geführt.
Wissenschaftlichkeit als wissenschaftlich geleitete Vermittlungspraxis
In internen Diskussionen, die ab den 1970er-Jahren in Pädagogischen Leitinstitutionen (→ Pädagogische Leitinstitutionen) geführt wurden, entwickelte sich neben einem systematisch-wissenschaftlichen Anspruch an den Stoff und dessen Organisation die erfolgreiche Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten zum zentralen Anliegen. Im Zusammenhang mit internen Leistungsmessungen an sogenannten Versuchsschulen zeigte sich ein aufkommendes Problembewusstsein, zumeist formuliert in veränderten Zielstellungen der sozialistischen Schule und ihrer Vermittlungspraxis. Um die gewünschte Produktivität innerhalb der Volkswirtschaft zu erreichen und den Fachkräftemangel auszugleichen, sollten Anwendungsbezogenheit und ‚Schöpfertum‘ stärker ausgebildet werden, dazu bedürfe es einer höheren ‚Lebensverbundenheit‘. Erforderlich sei „wissenschaftliche Exaktheit bei stärkerer Beachtung von Fachlichkeit und Altersgemäßheit“ (APW, 1979, S. 22). Dabei rückte die Lehrerbildung bzw. -weiterbildung in den Fokus der zentralisierten Bildungspolitik. Anschaulich und modern sollten konkrete Problemfelder der Fach- und Allgemeindidaktik behandelt werden (→ Fachmethodiken). Dies wird in audiovisuellen Aufzeichnungen deutlich, deren Bilder – gerahmt durch didaktische Diskussionen – einen fachlich reflektierten Lehrer inszenierten, der seine Schüler*innen im Blick hat . Die hier gezeigte Sendung wurde wiederholt im DDR-Fernsehen in der Reihe „Von Pädagogen für Pädagogen“ ausgestrahlt.
Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit des Unterrichts
Wissenschaftlichkeit schloss eine Parteilichkeit entsprechend der marxistisch-leninistischen Weltanschauung (→ Marxismus-Leninismus) mit ein, wie sie in der DDR Staatsdoktrin bildete. Damit fielen Wissenschaft, Wahrheitsanspruch und die Parteinahme für die Beschlüsse der SED oftmals in eins, ohne dass dies im Unterricht grundlegend in Frage gestellt werden konnte. Die in den fach- und allgemeindidaktischen Vorgaben festgeschriebenen Bezüge erschwerten die Thematisierung von Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten in den Unterrichtsfächern, die sich mit kulturellen Äußerungen und deren Deutungen oder auch mit historischen und gesellschaftspolitischen Erscheinungen befassten. Das galt insbesondere für den Deutschunterricht.
Das zeigt sich in den Videoaufzeichnungen von Schulunterricht der 1970er-Jahre in den Bereichen ‚Muttersprache‘ und ‚deutsche Literatur‘, wenn Argumentationsstrategien und Prozesse der Urteilsbildung selbst im Fokus der Aufzeichnung stehen – ob nun bei der Frage, wie man richtig diskutiere oder aber, was ein revolutionär-kämpferisches Gedicht auszeichne. So fiel auf, wie die häufige Verwendung des Wortes „Fakten“ im Unterrichtsgespräch eine stark orientierende Wirkung entfaltete. In den oben gezeigten Stills ist eine Lehrkraft abgebildet, die in beiden Stoffgebieten gefilmt wurde. Sie kennzeichnet kommunikativ und im Zusammenspiel mit präzisen Handgesten einerseits verlässliche Lerninhalte, die auf traditionellem Fachwissen der Sprach- und Literaturwissenschaft und unterrichtlich-didaktischem Brauchtum fußen. Andererseits benennt sie Berichte über eigene Erfahrungen und marxistisch-leninistisch perspektivierte Deutungen von Gedichten, historischen Ereignissen und sozialen wie wirtschaftlichen Zusammenhängen als Fakten. Als ‚gute‘ befunden, wird den Fakten schließlich in Argumentationen die Kraft zugeschrieben, für eine sozialistische, revolutionäre Weltanschauung zu wirken. An diesen Stellen werden vielschichtige Bilder eines an Tatsachen orientierten Stoffvermittlers sichtbar, der die ‚Sache‘ beherrscht, einen klaren Unterrichtsgang strukturiert und gleichzeitig ein von der ‚Sache‘ auch emotional eingenommener Lehrer ist. Diese Bilder konnten als Anschlusspunkte zum Bild einer sowohl objektiven wie parteilichen Wissenschaftlichkeit des Unterrichts genutzt werden.
Die Rede von wissenschaftlichem Unterricht der DDR hat eine lange Geschichte, in der das Motiv der Wissenschaft mit einlösbarem Wahrheitsanspruch für Legitimation von Inhalten und Praktiken wie auch für die moralische Orientierung genutzt wurde. Das galt insbesondere für Fächer, die stark gesellschaftspolitisch bzw. ideologisch (→ Ideologie) beansprucht waren. Die Beschäftigung damit zeigt die schwierige Situation von Schüler*innen und Lehrkräften in der DDR, aber auch in der sogenannten Wende bzw. Nachwendezeit (→ Wende / Transformation). Gleichzeitig wird hier deutlich, dass eine einfache Gegenüberstellung von Wissenschaftlichkeit und politischer Parteilichkeit selbst die Arbeit an einer mythisierenden Erzählung (→ Mythos) ist, denn sie berücksichtigt die vielfältige historisch gewachsene Verflochtenheit von Wissen und Machtansprüchen nicht.
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Wolf, C. (1989b): Es tut weh zu wissen. In: Wochenpost 36, 47, S. 3.
Die ersten 10 Minuten eines Fernsehbeitrags mit dem...
Zu sehen ist der Lehrer Dr. Tenner im Deutschunterricht...
Fotografien des Pädagogischen Labors...
Leserbriefe als Reaktion auf Christa Wolf Essays...
Ein zentraler Bildungsmythos im Rahmen des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs der DDR war der einer verwirklichten ‚Bildung für Alle‘.
Das Narrativ der Geschlechtergerechtigkeit war ein wichtiges Element des staatlichen Selbstverständnisses in der DDR und der Versprechen des Sozialismus.
Der sogenannte antifaschistische Gründungsmythos gehörte als systemkonsolidierendes Narrativ zum Selbstverständnis der DDR.
In der DDR spielten Gemeinschaften, hier ‚Kollektive‘ genannt, wie die Klasse in der Schule oder Gruppen bei den Jungen Pioniere und der FDJ, eine herausragende Rolle.
Kinder sollten in der DDR zu ‚sozialistischen Persönlichkeiten‘ gebildet werden. Wie beschreiben Zeitzeug*innen ihre Kindheit in der DDR gegenüber heutigen Kindern?