Indoktrinierender Unterricht? – Bilder über Fachunterricht in Filmaufzeichnungen der DDR

Persönliche Erlebnisse in Schule und Unterricht in der DDR werden schon seit den ersten öffentlichen Debatten ab 1989 gegeneinandergestellt und zeugen bis heute von den auseinanderdriftenden Erfahrungs- und Erinnerungsräumen der ehemaligen Bürger*innen der DDR. Durch umfangreiches Filmmaterial aus sogenannten „Pädagogischen Laboren“ kann ein Blick auf Darstellungen von Unterricht in der DDR geworfen werden. Auch wenn in diesen Videoaufzeichnungen kein gänzlich ungestelltes Bild von Unterricht zu finden ist, bilden sie doch eine einzigartige historische Quelle.

Interessiert man sich für Schule und Unterricht in der DDR, begegnet man schnell auch Fernsehbeiträgen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in Ost und West produziert wurden. Tauchen Ausschnitte und Kopien solcher Sendungen in den sozialen Medien auf, füllen sich die Kommentarbereiche mit heftigen Diskussionen darüber, wie es denn wirklich in den Klassenzimmern zugegangen sei. Deshalb reagierte Henning Schluss, 1998 Mitarbeiter an der Humboldt Universität zu Berlin, neugierig, aber auch zurückhaltend als ihm ein Magnetband zugespielt wurde, das „echten“ und „brisanten“ DDR-Unterricht im Fach Staatsbürgerkunde zeigen sollte. Ab Ende der 1960er-Jahre wurden in Räumen, die Klassenzimmern nachempfunden waren, Schüler*innen von Berliner Oberschulen nach Lehrplan von ihren Lehrkräften, manchmal auch von Hochschulangehörigen, unterrichtet. Dabei filmten und schnitten pädagogisch ausgebildete Techniker*innen und Aufnahmeleiter*innen des sogenannten „Pädagogischen Labors“ in Echtzeit. Unterschiedlichste Aufnahmen wurden je nach Bedarf bearbeitet und in der Ausbildung von Lehramtsstudierenden eingesetzt. Bis 2013 konnten Schluss und Kolleg*innen über 300 solcher Aufnahmen aus fast allen pädagogischen Hochschulen der DDR archivieren und digitalisieren. Sie sind im Forschungsdatenzentrum Bildung archiviert und können für Forschungszwecke genutzt werden.

Diese Aufnahmen erlauben einen Blick auf Darstellungen von Unterricht, die ebenso etwas über die zeithistorischen Vorstellungen von „gutem“, „normalem“ und „gescheitertem“ Lehren und Lernen verraten können, wie über heutige Annahmen, die auf die Videos projiziert werden – mit allen möglichen gesellschaftspolitischen Spannungen. Bisher fehlte es für die wissenschaftliche Auswertung einer größeren Anzahl von Aufnahmen jedoch an Zeit, Geld, datenschutzrechtlichem Know-how und der notwendigen methodischen Grundlagenarbeit. Hier setzt das Projekt „Indoktrinierender Unterricht? Bilder von Fachunterricht in Filmaufzeichnungen der DDR“ an, in dem zum ersten Mal eine größere Zahl von Videoaufzeichnung aus den Bereichen Naturwissenschaften, Deutsch und Fremdsprachen gesichtet und die darin sichtbare Schulkultur, die Inhalte sowie die praktischen Bezüge in ihren historischen Kontext gesetzt wurden. Dazu wurden zusätzlich Dokumente hinzugezogen, die z.B. bei der Produktion der Videos, aber auch in der Erstellung von Schulbüchern, von Lehrplanvorgaben und in der Formulierung politischer Ansprüche entstanden sind. Konkret wurde nach großen Motiven und Erzählungen gesucht, deren Bezüge auch nach der Auflösung des „einheitlichen sozialistischen Bildungssystems“ stark diskutiert wurden: Wie wurde Fremdsprachenunterricht dargestellt? Was wurde über die vielgerühmte wissenschaftliche Grundlage des Unterrichts gesagt? Wie lässt sich im Kontext der Aufnahmen die Rede vom „außergewöhnlich guten“ naturwissenschaftlichem Unterricht verstehen?

Ein besonderes Augenmerk des Projekts lag auf dem Transfer in eine breitere Öffentlichkeit. Über langwierige Recherchen sowie datenschutz- und archivrechtliche Arbeit ist es schließlich möglich geworden, Abbildungen aus den Laboren und Ausschnitte von Videomaterial ohne Einschränkungen zugänglich zu machen, mit Interessierten zu diskutieren und Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Auf dieser Grundlage wurde der Fokus auf Vorstellungen von ‚Wissenschaftlichkeit‘ im Unterricht der DDR gelegt, insbesondere auf die Arbeit an einem Mythos, der in diesem Zusammenhang die unhintergehbare Geltungsansprüche entwickelt hat: ‚Fortschritt durch Wissenschaft‘. Auf seine Elemente und Gegennarrative, etwa dem der Überlegenheit praktischer Erfahrung und dem des ästhetisch-emotionalen Anteils am flexiblen ‚Schöpfertum‘, wird in der zweiten Projektphase stärker Bezug genommen. Unter dem Titel Unterrichtsmitschau und Videodidaktika – Träume von Technik und Fortschritt im geteilten Europa stehen vermehrt die Produktionsbedingungen der Videoaufzeichnungen, die Ziele, Programmatiken und die damit einhergehende Zirkulation von Wissen, im Mittelpunkt.

Ergebnisse

Fachlichkeitsdebatten zwischen angestrebter Wissenschaftlichkeit und politisch-ideologischer Vereinnahmung

Zu sehen ist der Lehrer Herr Dr. Tenner während einer Aufzeichnung von Deutschunterricht in einer 8. Klasse im Pädagogischen Labor der Humboldt-Universität zu Berlin. Von besonderem Interesse bei der Auswahl der Sequenz für die historische Analyse waren die Gestiken des Lehrers. In der Unterrichtsstunde bemüht sich Herr Dr. Tenner das Thema "Diskussion" theoretisch zu erarbeiten und mit Beispielen zu belegen.

Christa Wolf löste mit einem Wochenpost-Essay eine Debatte aus, die jahrelangen Nachhall fand.

Team
Prof. Dr. Sabine Reh

BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung
des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation       
Orcid-Nr.: 0000-0003-2777-2126

s.reh@dipf.de
Cäcilia von Malotki, M.A.

BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung
des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation            
Orcid-Nr.: 0009-0008-5189-2498

c.malotki@dipf.de