Mythen in erzählten Bildungs- und Kindheitserfahrungen der DDR

Biografische Interviews ermöglichen es, verschiedene Formen der Gemeinschaftsbildung, die für die DDR typisch waren, und deren subjektiv erlebte Bedeutung nachzuvollziehen. Im Rahmen dieses Projekts wurde danach gefragt, wie man Mythen im biografischen Sprechen identifizieren kann. Darauf aufbauend wurden unterschiedliche Mythen und Mythisierungen aus dem heterogenen Datenmaterial herausgearbeitet, um die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft im gesellschaftlich-politischen Bezugsraum DDR zu beschreiben.

Das Projekt basierte auf Sekundäranalysen, also Daten, die in unterschiedlichen historischen und soziologischen Forschungsprojekten im Rahmen von Interviews erhoben wurden. Die biografischen Erzählungen von Personen, die in der DDR geboren und sozialisiert wurden, können Aufschluss über Bildungserfahrungen und ihre gesellschaftlichen Bedingungen geben. Diese Erzählungen beziehen sich dabei immer nachträglich auf das Erlebte und die Interviewgegenwart bringt die berichtete Vergangenheit mit hervor. Deswegen wurden sowohl Befragungen analysiert, die während der DDR entstanden sind, als auch solche, die nach der Wiedervereinigung realisiert wurden. Das ermöglichte es, Befragungen miteinander zu vergleichen, die zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten umgesetzt wurden.

Der analysierte Datenpool umfasst biografische Interviews, die während der DDR, kurz nach der DDR und bis zu 20 Jahre nach der Wiedervereinigung geführt wurden. Unter den befragten Personen finden sich Jahrgänge von den späten 1920er-Jahren bis zu den frühen 1980er-Jahren. Teilweise wurden mit denselben Personen im Abstand von einigen Jahren bis zu drei Interviews geführt. Diese qualitativen Längsschnittdaten zeigen, wie sich die Einordnung der eigenen Biografie in das gesellschaftspolitische System der DDR im Lebensverlauf verändern kann. Außerdem finden sich hier Umgangsstrategien mit der Notwendigkeit, das eigene Leben zu erzählen und von negativen zeitgenössischen Debatten über die DDR abzugrenzen.

Die von Interviewten skizzierten Biografien beinhalteten in beinahe allen Fällen Bildungserfahrungen in Schulen sowie Kinder- und Jugendorganisationen wie den Jungen Pionieren und die FDJ. Besonders in Interviews, die nach dem Ende der DDR geführt wurden, findet sich ein Gemeinschaftsmotiv, das vor allem mit außerschulischen Bildungsorganisationen verbunden wird. Im Projekt wurde analysiert, wie Zugehörigkeiten zu Bildungsinstitutionen und -organisationen kontextualisiert und bewertet werden. Da die biografischen Erzählungen vor allem hinsichtlich der Bildungserfahrungen untersucht wurden, wurden zunächst die Interviewpassagen herausgefiltert, in denen es um die Integration in diese Bildungsinstitutionen und -organisationen geht. Diese Teile des Interviews wurden aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive interpretiert, um nachzuvollziehen, wie Personen ihre Erfahrungen in der DDR verstehen. Dabei wurden Mythen als Formen des biografischen Sprechens von anderen Sachverhaltsdarstellungen abgegrenzt. Werden Erfahrungen mit starken Bewertungen aufgeladen, ist das ein erster Hinweis auf einen Mythos, der sich von weniger bedeutenden Erlebnissen und ihrer Verbindung mit der Gesellschaft abgrenzt.

Im weiteren Projektverlauf setzt sich das Projekt damit auseinander, wie Mythen im biografischen Sprechen hergestellt werden. Ehemalige DDR-Bürger*innen beziehen sich in ihren erzählten Erinnerungen auf eine obsolete Gesellschaftsordnung und setzen sie mit ihrem aktuellen Leben in Beziehung . Hier ist Mythisierung eine Möglichkeit der Selbstvergewisserung - zum Beispiel bezüglich des stärkeren sozialen Zusammenhalts in der DDR. Dabei sind Deutungen und Umdeutungen, die mit der jeweiligen Gegenwart des Erzählens verbunden sind, von Interesse.

Ergebnisse

In der DDR spielten Gemeinschaften, hier ‚Kollektive‘ genannt, wie die Klasse in der Schule oder Gruppen bei den Jungen Pioniere und der FDJ, eine herausragende Rolle.

Team
Prof. Dr. Michael Corsten

Universität Hildesheim
Institut für Sozialwissenschaften
Orcid-Nr: 0009-0001-5177-7464

corsten@uni-hildesheim.de
Dr. Melanie Pierburg

Universität Hildesheim
Institut für Sozialwissenschaften
Orcid-Nr: 0009-0006-9309-9960

pierbu@uni-hildesheim.de