Quellenfokus:
Pädagogische Lesungen

Die Pädagogischen Lesungen stellen ein einzigartiges Quellenkorpus zu einer institutionalisierten Form des systematischen Erfahrungsaustausches in der DDR-Pädagogik dar. Insgesamt über 4000 Lesungen sind über das digitale Textarchiv der BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF auf Anfrage einsehbar und zum Teil durch das Archiv der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock zu Forschungszwecken aufbereitet worden.

Element aus Pädagogischer Lesung, Foto: Archiv der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen der Universität Rostock
Element aus Pädagogischer Lesung, Foto: Archiv der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen der Universität Rostock Quelle

Bereits in den 1950er-Jahren wurden in der DDR, initiiert durch die Bildungspolitik, die Pädagogischen Lesungen als institutionalisierte Form des systematischen Erfahrungsaustausches von Pädagog*innen in allen Bereichen des DDR-Bildungs- und Erziehungswesens (Kindergarten, allgemeinbildende Schulen, Hilfsschulen, Berufsschulen, außerschulische Erziehung) etabliert. Ziel war zum einen, in Form einer schriftlichen Niederlegung von eigenen Erfahrungen sowie innovativen Vorschlägen zur Unterrichtsgestaltung durch die praktizierenden Pädagog*innen selbst die Bildungs- und Erziehungspraxis darzustellen, zu analysieren und zu begründen sowie neue Methoden zu beschreiben. Zum anderen sollten aus diesen (guten) Erfahrungen Verallgemeinerungen abgeleitet werden, die anderen Pädagog*innen Anregungen und Hinweise für die eigene pädagogische Arbeit geben können. Der Begriff Pädagogische Lesungen bezieht sich jedoch nicht nur auf die schriftliche Fixierung der Erfahrungen, sondern bildet ein System aus Niederschriften und einem umfassenden Weiterbildungsprogramm für Pädagog*innen in Form der Präsentation (Vorlesung) ausgewählter Niederschriften in kleineren bis großangelegten Veranstaltungen auf regionaler und nationaler Ebene mit dem Ziel der Sicherstellung einer systematischen und zentralisierten Weiterbildung aller Pädago*innen (Zentrale Tage der Pädagogischen Lesungen1). Der Entwicklung und Popularisierung der Pädagogischen Lesungen wurde fachlich und bildungspolitisch ein enormer Stellenwert beigemessen.

Element aus Pädagogischer Lesung, Foto: Archiv der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen der Universität Rostock
Element aus Pädagogischer Lesung, Foto: Archiv der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen der Universität Rostock Quelle

Das Korpus der überlieferten Lesungen umfasst Themen aller pädagogischen und didaktischen Bereiche: Schulische Unterrichtsfächer sowie ihre Didaktik bzw. Methodik wurden ebenso behandelt wie allgemeinpädagogische und psychologische Fragen (z.B. zu Motivation, Lernstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, vorschulischer Bildung und Erziehung). Der Textumfang beträgt in der Regel 30 bis 50 Seiten. Viele verfügen über ausgedehnte Anhänge, in denen selbstgestaltete Unterrichtsmaterialien, Bilder bzw. Diapositive und z.T. Auswertungen selbst erhobener statistischer Daten sowie einige Tonaufzeichnungen zu finden sind.

Zeichnung in Altner/Hörig/Meyer, 1974, S. 117 Quelle
Tabelle in Eichner, 1968, Anhang S.3 Quelle
Handarbeit in Altner/Hörig/Meyer, 1974, S. 73 Quelle

Fachwissenschaftlich und formal-wissenschaftlich sollten die Pädagogischen Lesungen das Niveau wissenschaftlicher Arbeiten erreichen. Bei ihrer Erstellung wurde daher großes Gewicht auf die theoretische Basierung der praktischen Ableitungen, auf Rezeption und Zitation von (Fach-)Literatur und auf die Voranstellung von Thesen gelegt. Die Lesungen sind einzigartige historische Quellen, die mit einer Spanne von 1955–1989 beinahe den gesamten Zeitraum des Bestehens der DDR umfasst. Von 1961 bis 1989 wurden in der Pädagogischen Zentralbibliothek im Haus des Lehrers Berlin (PZB) etwa 9.500 Lesungen gesammelt, die mit deren Schließung in den Bestand der BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF übergingen.

Schulausstellungselement „Militärpolitisches Kabinett", Fotografie in Richter & Schlender, 1978, Anhang S. 33 oben Quelle
Schulausstellungselement „Militärpolitisches Kabinett", Fotografie in Richter & Schlender, 1978, Anhang S.32 unten Quelle

Die Lesungen sind mit Autor*innennamen, Titel und Erscheinungsjahr erschlossen und in lesbarem Zustand, wobei die Trägermaterialien inzwischen derart veraltet sind (Umdruckverfahren, Ormig), dass bei einem größeren Teil eine zunehmende Auflösung droht. Für die Recherche zur Entwicklung der Pädagogischen Lesungen, der Organisationsstruktur sowie der Kriterien der Begutachtung steht ebenso das umfangreiche Archivgut der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) sowie des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts (DPZI) (→ Pädagogische Leitinstitutionen) zur Verfügung, das sich im Archiv der BBF befindet. Zu diesem Korpus zählen die Protokolle der Zentralen Jury, Gutachten zu den Pädagogischen Lesungen sowie Berichte der Auswertung der Zentralen Tage der Pädagogischen Lesung. Ergänzt wird diese Überlieferung mit Quellen aus dem Zentralen Bundesarchiv, in dem die Unterlagen der Abteilung Weiterbildung des Ministeriums für Volksbildung sowie des Gewerkschaftsbundes lagern. Thematisch wesentliche Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung stehen online im digitalen Textarchiv der BBF bereit.

Fußnoten
  • [1]

    Die „Zentrale[n] Tage der Pädagogischen Lesungen“ fanden zunächst am Zentralinstitut für Weiterbildungsveranstaltungen der DDR in Ludwigsfelde als großangelegte Weiterbildungsveranstaltungen statt, bei denen von einer Jury als besonders gut bewertete Lesungen einem Fachpublikum öffentlich vorgetragen wurden. Später wurden diese Veranstaltungen auch an diverseren Universitäten und Fachschulen des Landes durchgeführt.

Literatur
  • Altner, G./ Hörig, E./ Meyer, A. (1974): Möglichkeiten der Persönlichkeitsbildung und Kollektiverziehung in der Hilfsschule durch ein vielfältiges Angebot von Interessengemeinschaften und unter der Wirkung von festen sozialistischen Schultraditionen. DIPF/BBF, PL3260. (Abruf 10.05.2024: https://bbf-scripta-paedagogic...).

  • Eichner, S. (1968): Wie erkennt man das vermutlich hilfsschulbedürftige Kind? DIPF/BBF, PL1446a. (Abruf 22.04.2024: https://bbf-scripta-paedagogic...).

  • Koch, K./ Koebe, K./ von Brand, T./ Plessow, O. (2019): Sozialistische Schule zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Die Pädagogischen Lesungen als ungehobener Schatz zur Erforschung von Unterricht in der DDR. In: Schriftenreihe der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock 1. (Abruf 10.05.2024: https://doi.org/10.18453/rosdo.. ).

  • Richter, W. & Schlender, W. (1978): Unser militärpolitisches Kabinett – ein Beitrag zur sozialistischen Wehrerziehung. DIPF/BBF, PL4968a. (Abruf 10.05.2024: https://bbf-scripta-paedagogic...).

  • Ritzi, C. (2003): Scripta Paedagogica Online. Digitales Textarchiv zur deutschsprachigen Bildungsgeschichte. In: Thaller, M. (Hrsg.): Digitale Bausteine für die geisteswissenschaftliche Forschung. Göttingen: Philo Fine Arts, S. 103–145.

  • Wähler, J. & Hanke, M.-A. (2018): „Erfahrungen der Besten“. Die unikale Sammlung pädagogischer Lesungen der DDR – ein Werkstattbericht. In: Medienimpulse 56, 4. (Abruf 29.04.2024: https://www.pedocs.de/frontdoo...).