Wende / Transformation

‚Wende‘ ist ein Begriff, den Zeitgenoss*innen selbst nutzten, um den fundamentalen Umbruch in der DDR zu bezeichnen, der sich in den Jahren zwischen 1989 und 1990 vollzog. Zwischen den sich ausweitenden Massendemonstrationen, den Aktionen der Bürgerrechts- und Oppositionsbewegung, dem Zerfall der Macht der SED, der Etablierung der Runden Tische, neuen Wahlen, dem Entwurf einer Verfassung – später oft zusammenfassend auch als ‚friedlichen Revolution‘ bezeichnet – und dem zunehmend lauter werdenden Wunsch nach einem gemeinsamen deutschen Staat entwickelte sich eine folgenreiche Dynamik, bis es schließlich am 3. Oktober 1990 zum formalen Beitritt der sogenannten neuen Länder auf dem Territorium der DDR zur Bundesrepublik Deutschland kam. Die ‚Wende‘ vollzog sich auf verschiedenen Ebenen, der Ebene des politischen Systems und der institutionellen Ordnung wie aber auch auf der Ebene der Lebenswelt und des Alltags der Bevölkerung; dabei zeigten sich Ungleichzeitigkeiten und widersprüchliche (Alltags-)Erfahrungen, die sich auch weit über 1989/90 hinaus erstreckten. Die verschiedenen Erfahrungen von Aufbrüchen und Unsicherheiten der Menschen in Ostdeutschland und ihr daraus entstehendes spezifisches Wissen darüber deckten sich keineswegs immer mit einer einfachen Chronologie der politischen Ereignisse und den Veränderungen der rechtlich-politischen Regelungen. Sozial- und Politikwissenschaftler*innen, die diesen Umbruch zeitgenössisch beobachteten und dazu verschiedene Daten – etwa auch in biographischen Interviews – erhoben, sprachen von ihm als von einer ‚Transformation‘ und meinten damit häufig den Übergang zur Marktwirtschaft und zur Demokratie. Während der Historiker Philipp Ther einen tiefgreifenden, das ökonomische und politische System aber auch viele verschiedene Bereiche der Gesellschaft grundlegend verändernden und beschleunigten Prozess einen „Transformationsprozess“ nennt, der seiner Auffassung nach als neoliberale Transformation viele Länder Europas und des früheren ‚Ostblocks‘ – allerdings jeweils unterschiedlich – erfasste (vgl. Ther 2014, S. 28, insb. S. 26-40), hat die Zeithistorikerin Kerstin Brückweh den Begriff einer „langen Geschichte der ‚Wende‘“ geprägt (Brückweh, 2020). Sie adressiert damit die komplexen Prozesse struktureller Umbauten, verschiedener Erfahrungen und des sich ändernden Erinnerns daran. Sie kann gemeinsam mit einer Forschungsgruppe deutlich machen, dass die Geschichte der Veränderungen, die sich um 1989 herum vollzogen, weit zurückreicht und Auswirkungen über die unmittelbare ‚Wende‘-Zeit hinaus hat. Für deren Verständnis ist eine lange Perspektive vonnöten. In den Blick genommen werden sollte auf jeden Fall der zwischen der Mitte der 1970er-Jahre und etwa 2000er-Jahre liegende Zeitraum, um möglichst viele Entwicklungsaspekte und Phänomene zu erfassen (Brückweh, Villinger, Zöller, 2020). Gerade für die Institution Schule konnte gezeigt werden, wie sich deren langlebige Strukturen und mit ihr zusammenhängende Mentalitäten und Vorstellungen der Akteure – vor allem das Paradigma der ‚Leistung‘ und die Idee der ‚Meritokratie‘, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildeten – gegenseitig angesichts der Herausforderungen durch die ‚Wende‘ verstärkten und Schule als Lebenswelt stabilisierten, auch wenn die Strukturen des Schulsystems sehr wohl nach 1990 verändert wurden und sich denen in der alten Bundesrepublik annäherten. Dass Erfahrungen in der Schule nicht zwangsläufig gut waren, auch wenn die Erinnerung an die Schulzeit positiv ist, zeigt sich nicht nur im Rückblick auf die DDR, aber eben auch in der „langen Geschichte der ‚Wende‘“ (Zöller, 2020).

Literatur

Brückweh, K. (2020): Die lange Geschichte der „Wende“ – Lebenswelt und Systemwechsel in Deutschland vor, während und nach 1989. In: Deutschland Archiv, 08.09.2020. (Abruf 26.05.2024: www.bpb.de/314982).

Brückweh, K. /Villinger, C. /Zöller, K. (Hrsg.) (2020): Die lange Geschichte der Wende. Geschichtswissenschaft im Dialog. Berlin: Ch. Links.

Ther, P. (2014): Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Berlin: Suhrkamp.

Zöller, K. (2020): Erinnerung, Wandel und Neubewertung – Die Schulzeit in der langen Geschichte der „Wende“. In: Deutschland Archiv, 18.09.2020. (Abruf 26.05.2024: www.bpb.de/315771).