Allgemeinbildung wurde seit den 1950er-Jahren konzipiert und galt als Grundlage für den weiteren Aufbau des Sozialismus ebenso wie für die individuell Berufsausbildung und den Weg in weiterführende Bildungsinstitutionen des Bildungssystems bis zur Hochschule. In Abgrenzung von einer „subjektiv-idealistischen“ und „abstrakt-humanistischen“ Konzeption der Persönlichkeit (Neuner, 1975, S. 30) galten für die pädagogische Wissenschaft der DDR „alle Erziehungsprozesse [...] unlösbar in lebendige geschichtliche Prozesse eingebettet [...] und von den materiellen Lebensprozessen der Gesellschaft, den politischen Kämpfen der Klassen und ihren ideologischen Reflexionen in Ziel, Inhalt und Methode entscheidend bestimmt“ (ebd., S. 27). Das Allgemeine der sozialistischen Allgemeinbildung war im Kern also eine Orientierung „auf aktive Aneignung der historisch-konkreten Umwelt, der menschlichen Kultur in ihrer Gesamtheit, in der Arbeit, im Lernen, in kulturschöpferischen Tätigkeiten“ (ebd., S. 32). Damit basierte sozialistische Allgemeinbildung (1) auf der marxistisch-leninistischen Interpretation der „Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung“ (ebd., S. 38), sah (2) in der „Verbindung von Unterricht, produktiver Arbeit und Gymnastik“ die Bedingung einer „allseitigen Entwicklung des Menschen“ (ebd., S. 39), die durch (3) „[i]deologische Erziehung“ eine allseitige Entwicklung einer spezifisch „sozialistischen“ Persönlichkeit war (ebd.). Eine so gedachte „[s]ozialistische Persönlichkeitsentwicklung“ galt (4) als Bedingung und Garant für die Einbettung der Erziehung in den „revolutionären Kampf der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeter“ (ebd.).
Mit alldem konzentrierte sich erziehungswissenschaftliche Forschung in der DDR darauf, zur Herausbildung allseitig entwickelter und allseitig gebildeter sozialistischer Persönlichkeiten – insbesondere in den Institutionen des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems − beizutragen. Die Berufung auf Marxens Vision einer vollen „Entwicklung jedes Individuums“ in einer „höheren Gesellschaftsform“ klammerte allerdings die „freie“ individuelle Entwicklung der Persönlichkeit aus (Marx, 1962, S. 618). Sowohl die „Theorie sozialistischer Allgemeinbildung“ (Neuner, 1975) als auch das in Lehrplanwerken und erläuternden Monografien manifestierte Konzept sozialistischer Allgemeinbildung banden bedeutende erziehungswissenschaftliche Forschungsressourcen in der DDR, zunächst im Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut (DPZI) und ab 1970 in der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW). Erst allmählich geriet seit der Mitte der 1970er-Jahre und vor allem gegen Ende der 1980er-Jahre wich die dogmatische These vom Unterricht als Hauptfeld der Erziehung und Bildung der heranwachsenden Generation (vgl. Tenorth & Wiegmann, S. 382, FN 80), einer behutsam vorgetragenen erziehungswissenschaftlichen Kritik. Dennoch vermochte sich die Einsicht von der „Verflochtenheit gesellschaftlicher Prozesse“ bei der Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten (vgl. ebd., S. 419, FN 276) bis zum Zusammenbruch der DDR gegen die herrschende Bildungs- und Wissenschaftspolitik nicht durchzusetzen.
Literatur
Drefenstedt, E./ Neuner G./ Autorenkollektiv (1970): Lehrplanwerk und Unterrichtsgestaltung. 2. Aufl. Berlin: Volk und Wissen.
Marx, K. (1962): Werke, Bd. 23. Berlin: Dietz Verlag.
Neuner, G. (1975): Zur Theorie der sozialistischen Allgemeinbildung. 3. Aufl. Hrsg. v. Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR. Berlin: Volk und Wissen.
Neuner, G. (1989): Allgemeinbildung. Konzeption – Inhalt – Prozeß. Berlin: Volk und Wissen.
Neuner, G. & Autor*innenkollektiv (Hrsg.) (1972): Allgemeinbildung Lehrplanwerk Unterricht. Berlin: Volk und Wissen.
Neuner, G. & Autor*innenkollektiv (Hrsg.) (1988): Allgemeinbildung und Lehrplanwerk. 2. Aufl. Berlin: Volk und Wissen.
Tenorth, H.-E. & Wiegmann, U. (2022): Pädagogische Wissenschaft in der DDR. Ideologieproduktion, Systemreflexion und Erziehungsforschung. Studien zu einem vernachlässigten Thema der Disziplingeschichte deutscher Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.