Bei Oral History handelt es sich um einen methodischen Zugang zu historischer Forschung, der sich verstärkt in den 1980er und 1990er-Jahren durchgesetzt hat. Oral History stützt sich dabei nicht auf Schrift, Bild und Materialität als Quelle, sondern auf Befragungen und Interviews mit Zeitzeug*innen, also auf mündliche Quellen. Diese sollen entweder schriftliche Quellen ergänzen oder ganz andere Perspektiven und Sichtweisen einbringen, die stärker am Erleben von Subjekten orientiert sind. Dabei geht es ganz bewusst um die Subjektivität von Erfahrungen, von Erinnerungen und von Emotionen. Oral History knüpft an eine alte Form der Tradierung von Erlebnissen und Lebensgeschichten durch mündliche Erzählungen an. Oral History meint sowohl die Methode der mündlichen Befragung und deren Aufzeichnung als auch die dadurch entstandene Quelle (vgl. Apel, 2022).
Wichtige und große Oral History Projekte befassten sich etwa mit Befragungen und Erinnerungen von 600 ehemaligen Zwangsarbeiter*innen während des Nationalsozialismus, ein Projekt das Anfang der 2000er durchgeführt wurde und einen Einblick in die Erfahrungen von 20 Millionen Zwangsarbeiter*innen gibt. Diese lebensgeschichtlichen Interviews sind in digitalen Archiven archiviert worden und in mehreren Sprachen zugänglich (Pagenstecher, 2016). Die Frage der Nachnutzung von Quellen der Oral History markiert eine der methodischen und archivarischen Diskussionen.
Die verstärkte Reflektion und Bedeutung von Oral History ist eng verbunden mit wissensgeschichtlichen Bewegungen wie „Geschichte von unten“, „Geschichte der kleinen Leute“ oder „Alltagsgeschichte“, das heißt derjenigen Menschen, die aufgrund ihrer Lebensverhältnisse nicht unbedingt schriftliche Quellen hinterlassen. Auch die Erinnerungen von Menschen, die von Verfolgung, Vertreibung und Flucht betroffen sind, nehmen in der Oral History einen großen Raum ein. Eng verbunden ist sie auch mit Erinnerungskulturen und Gedenkstättenarbeit. Berührungspunkte bestehen zudem zur Biographieforschung bzw. zu biographischen Interviews. Da es dabei um die Befragung noch lebender Personen geht, kann Oral History nur im Kontext von Zeitgeschichte erfolgen und ist eng an die Diskussion um Zeitzeug*innenschaft gebunden.
Auch in der DDR-Forschung wurden große und bekannte Oral History Projekte durchgeführt, so etwa die Studie „Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR“ von Lutz Niethammer, Alexander von Plato und Dorothee Wierling (1991). Diese Untersuchung präsentiert 30 lebensgeschichtliche Interviews, die in der Wendezeit durchgeführt wurden und durch die Erinnerungen von Menschen an 40 Jahre des Lebens in der DDR bewahrt werden sollten. Diese geben unter anderem Einblicke in privates Leben in der DDR und fragen etwa nach dem Politischen des Privaten (von Plato, 1991) oder thematisieren die „Politische Kultur vor Ort“ (Niethammer, 1991, S. 45).
Literatur
Linde A. (Hrsg.) (2022): Erinnern, erzählen, Geschichte schreiben. Oral History im 21. Jahrhundert. Berlin: Metropol.
Niethammer, L./von Plato, A./Wierling, D. (1991): Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. Berlin: Rowohlt.
Niethammer, L. (1991): Glasnost privat 1987. Reportage über eine Befragung unter den Zeitgenossen Honeckers zur Zeit Gorbatschows. In: Niethammer, L./von Plato, A./Wierling, D.: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. Berlin: Rowohlt, S. 9-75.
Pagenstecher, C. (2016): „Oral History als Methode“. In: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) online. (Abruf 03.11.2024: http//www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/ns-zwangsarbeit/227274/oral-history-als-methode).
Von Plato, A. (1991): Ein deutsches Familiendrama oder wie politisch ist das Private? In: Niethammer, L./von Plato, A./Wierling, D. (1991): Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. Berlin: Rowohlt, S. 514-532.