Ein Mythos bzw. Mythen sind dem Alltagsverständnis und im Alltagsgebrauch unwahre Erzählungen über die Welt, ihre Anfänge und Entwicklungen oder auch einfach nur hartnäckig bestehende, falsche Geschichten über in einer Gesellschaft oder Gemeinschaft bedeutungsvolle Ereignisse. Dabei wird zumeist davon ausgegangen, dass es sie, also ihre Unwahrheit, in einer kritischen Haltung zu entlarven gilt. Demgegenüber steht ein in den verschiedenen Geistes- und Kulturwissenschaften genutzter analytischer Begriff des Mythos, der als eine Art Heuristik in der Untersuchung gesellschaftlich bedeutsamer Erzählungen dienen kann (vgl. Segal, 2015). Segal schlägt – angesichts der verschiedenen Aspekte, die von unterschiedlichen Theoretiker*innen und in den verschiedenen Disziplinen für den Mythenbegriff in Anschlag gebracht werden – vor, ein nicht-rigides, also nicht eng an mehrere gleichzeitig auftretende Merkmalsausprägungen gebundenes Konzept von Mythos zu entwickeln (Segal, 2015, S. 3ff.). Mythen sind in diesem Sinne zunächst rudimentäre Erzählungen, haben einen Anfang und ein Ende. Das in ihnen zur Gestaltung kommende, zeitlich sich erstreckende Geschehen entwickelt sich um Hauptfiguren herum, oft in bestimmten Personenkonstellationen. Mythen bestehen also oft aus einer wiederkehrenden Konfiguration von Akteuren und Handlungen. Die Inhalte stellen etwas für die Einzelnen und eine bestimmte Gruppe Bedeutsames dar und entwickeln für eine größere Gruppe von Akteuren Sinn, stiften Identität und erfüllen damit auch soziale Funktionen, z.B. solche der Komplexitätsreduktion und der Legitimation. Mit dem Mythos vermittelt sind starke Überzeugungen oder gar eine Art Glaube an spezifische Deutungen. Der Mythos entfaltet eine bestimmte Macht über diejenigen, die an ihn glauben. Mit Roland Barthes, einem der bekannteren Mythentheoretiker, kann darüberhinausgehend der Mythos als eine Darstellungsweise bestimmt werden, die an die Deutungen appelliert, die in einem kulturellen Kontext als vorausgesetzte oder unterstellte Hintergrundüberzeugungen enthalten sind. Er bezeichnet daher den Mythos als sekundäres Deutungsmuster bzw. als eine Rhetorik der „entwendeten Rede" (Barthes, 2012, S. 273). Die so charakterisierte Funktionsweise des Mythos kann entziffert werden und die ‚Mythologie‘ wird so zu einem Instrument der Gegenwartskritik. Barthes zeigt im Detail auf, wie Geschichte, geschichtliche Gewordenheit in den „Mythen des Alltags" ‚„naturalisiert", in Natur verwandelt wird und damit so wenig wandelbar erscheint wie der Mythos der Rationalität keine Alternativen zulässt (vgl. Hericks, 2017).
Literatur
Barthes, R. (1964): Mythen des Alltags. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Hericks, K. K. (2017): Rationalitätsmythos – ein Konzept. In: Kirchner, S./ Krüger, A. K./ Meier, F./ Meyer, U. (Hrsg.): Nano-Papers “Institution – Organisation – Gesellschaft”, 4. München: Technische Universität München.
Segal, R.A. (2015): Myth. A very short introduction. 2. Aufl. Oxford: Oxford University Press.