Das Kollektiv galt als „typische soziale Lebensform“, als „sozialer Organismus“ (Laabs et al., 1987, S. 202f.) im Sozialismus. Bereits im Zuge der ‚Tendenzwende‘ 1948/49 löste der Begriff des Kollektivs den bis dahin im pädagogischen Diskurs gängigen Begriff der Gemeinschaft ab. Einer sachlichen, begrifflichen Auseinandersetzung bedurfte die semantische Ersetzung scheinbar nicht. Die Begriffe unterschieden sich entsprechend nur marginal: Während „Gemeinschaft“ eine „soziale Qualität der gesellschaftlichen Vereinigung von Menschen“ beschrieb (Klaus & Buhr, 1976, S. 449f.), war „Kollektiv“ selbst nicht definiert, wohl aber der „Kollektivbegriff“, der eine „geordnete Gesamtheit“ von Gegenständen oder Individuen beschrieb (ebd., S. 639f.). Vor dem Hintergrund marxistisch-leninistischer Interpretationen der Gesellschaft galt die „menschliche Persönlichkeit weder [als] fatalistisches Produkt der Gemeinschaft [...] noch Mittel übergeordneter sozialer Ganzheiten, sondern [als] Subjekt der sozialen Beziehungen, Träger sozialer Funktionen in einer ganz bestimmten sozialökonomischen Struktur der Gesellschaft“ (Neuner, 1975, S. 37). Diese Auffassung eines „sozialistischen Kollektivismus“ galt als „Wesensmerkmal der gesellschaftlich-sozialen Beziehungen“ (ebd.) und war damit semantisch fast deckungsgleich mit dem oben genannten Begriff der Gemeinschaft, nur sozialistisch spezifiziert. Maßgeblich trug die Propagierung und Aneignung der ‚Sowjetpädagogik‘ dazu bei, den Begriff des Kollektivs in der pädagogischen Fachsprache zu etablieren und den Begriff der Gemeinschaft auf den Terminus Gruppe zu reduzieren (Laabs et al., 1987, S. 145, 162).
Idealerweise fungierten Kollektivmitglieder als kollektive Interessenvertreter*innen und handelten entsprechend. Die Entwicklung der Individuen zu Persönlichkeiten galt dabei als untrennbarer Bestandteil kollektiver Vervollkommnungsprozesse. Mit dem Beginn der Rezeption der Schriften Makarenkos in der Sowjetunion eine Dekade nach dessen Tod und der Herausgabe seiner Werke in deutscher Übersetzung galt Makarenko auch in der DDR als Klassiker sozialistischer Kollektivpädagogik, mithin die in seinen Schriften überlieferten pädagogischen Erfahrungen als lehrreich und vorbildlich für die Praxis sozialistischer Erziehung, vornehmlich für die in Heimen. Gleichwohl blieb die erziehungswissenschaftliche und historische Beschäftigung mit Makarenko randständig. Die Idee, Makarenkos Erziehungsverständnis als reformpädagogische Variante zu interpretieren, wurde erst sehr spät vor dem Ende der DDR diskutiert.
Literatur
Laabs, H. J./ Dietrich, G./ Drefenstedt, E./ Günther, K.-H ./ Heidrich, T./ Herrmann, A./ Kienitz, W./ Kühn, H./ Naumann, W./ Pruß, W./ Sonnschein-Werner, C./ Uhlig, G. (Hrsg.) (1987): Pädagogisches Wörterbuch. Berlin: Volk und Wissen.
Neuner, G. (1975): Zur Theorie der sozialistischen Allgemeinbildung. 3. Aufl. Hrsg. v. Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR. Berlin: Volk und Wissen.
Tenorth, H.-E. & Wiegmann, U. (2022): Pädagogische Wissenschaft in der DDR. Ideologieproduktion, Systemreflexion und Erziehungsforschung. Studien zu einem vernachlässigten Thema der Disziplingeschichte deutscher Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.