In diversen Bezugnahmen auf Bildungs- und Erziehungsprozesse, in pädagogischen Diskursen, in Bildungsmedien ebenso wie in begleitenden und retrospektiven Berichten, (auto-)biographischen Erzählungen und ästhetischen Darstellungen finden sich unterschiedliche Elemente, Motive und Ideen über Bildung und Erziehung, die ein mythisierendes Potenzial aufweisen. Bildungsmythen sind grundlegende Erzählungen, manche sagen hier, weil sie sich oft wiederholen, auch „Narrative“, in denen unterschiedlichen Ideen und Motiven über Bildung und Erziehung zusätzliche Sinndimensionen verliehen werden und der Begriff der Bildung selbst in besonderer Weise aufgeladen wird. So hat Jessen (2004) ein immer wieder für die deutsche Bildungsgeschichte beschriebenes Deutungsmuster (Bollenbeck, 1994) charakterisiert, in dem eine besondere Form der Verschränkung der National- mit einer Bildungs- als Kultursemantik stattfand. Sie leitete im 19. Jahrhundert Wahrnehmungen, veranlasste Institutionalisierungen und motivierte auch das Verhalten einer geisteswissenschaftlichen Bildungselite, auch wenn gegen sie schließlich andere Ideen, etwa die eines Bildungswertes der Wissenschaften und auch der Naturwissenschaften, aufgeboten wurden (vgl. z.B. zur Auseinandersetzung um den ‚Bildungswert‘ der Naturwissenschaft Brüggemann, 1967; Daum, 1998). Bildungsmythen in dem hier genutzten Sinne bestehen aus verschiedenen Elementen, aus Bildern und anderen Versatzstücken, die immer wieder im Zusammenhang mit dem Konzept der Bildung und dem der Erziehung, wie sie sich vor allem in Europa in den letzten etwa 250 Jahren im Zusammenhang mit der Entstehung von Bildungssystemen herausgebildet haben, aufgerufen und neu in Umlauf gesetzt werden. Ein solches mythisierendes Potenzial hat z.B. die Idee eines legitimen, umfassenden Bildungsanspruches für alle Menschen, einer ‚Bildung für alle', zu dem Erzählungen, etwa der sich dafür einsetzenden pädagogischen Helden, von Lehrkräften aber auch Schulpolitiker*innen, die versuchen, diesen Anspruch auf die eine oder andere Weise durchzusetzen oder des armen, sozial benachteiligten, an Bildung zwar interessierten, aber keinen Zugang dazu besitzenden und sich schließlich doch bildenden Kindes gehören. Gegenerzählungen dazu ranken sich um die Ideen einer „Freien Bahn dem Tüchtigen“ oder um die des hochbegabten Kindes. Auch die Vorstellung von einer „schönen Kindheit“ hat mit verschiedenen Elementen – etwa dem freien und unbeaufsichtigten Zugang zur Natur – eine mythisierende Kraft und kann einem Bildungsmythos dienen. Für das Handeln von Akteuren und das Wirken von Institutionen im pädagogischen Feld, sowohl innerhalb von Organisationen selbst, in den pädagogischen Diskursen des Feldes, in Selbstdarstellungen und in der Bildungspolitik wirken solche Bildungsmythen verbindend und orientierend. Beobachtbar sind im pädagogischen Feld und zu unterschiedlichen Zeiten, in verschiedenen Zeitperioden und in spezifischen Kontexten Einsprüche und Widersprüche, Kämpfe und Auseinandersetzungen um solche Bildungsmythen, um ihre Deutung und individuelle Aneignung.
Literatur
Bollenbeck, G. (1994): Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M.: Insel Verlag.
Brüggemann, O. (1967): Naturwissenschaft und Bildung. Die Anerkennung des Bildungswertes der Naturwissenschaften in Vergangenheit und Gegenwart. Heidelberg: Quelle & Meyer.
Daum, A. W. (1998): Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914. München: Oldenbourg.
Jessen, R. (2004): Zwischen Bildungsökonomie und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung. Die doppelte deutsche Bildungsdebatte der sechziger Jahre. In: Haupt, H.-G. (Hrsg.): Aufbruch in die Zukunft – die 60er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, CSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 209–231.